Ist ein friedlicher Aufstieg Chinas möglich?
Professor Glenn Diesen,* Norwegen
(13. Dezember 2024) Der spektakuläre Aufstieg Chinas wird unweigerlich einen Wettstreit um die Sicherheit mit den USA auslösen und zu Spannungen zwischen den beiden führenden Volkswirtschaften der Welt führen. Der friedliche Aufstieg Chinas liegt jedoch nicht allein in der Verantwortung Pekings, da auch die USA den Wettstreit um die Sicherheit bewältigen müssen, indem sie Verschiebungen in der internationalen Machtverteilung berücksichtigen.
Die USA haben nach dem Kalten Krieg ein internationales System aufgebaut, das auf Unipolarität/globaler Dominanz basiert. Der Versuch, dieses System aufrechtzuerhalten, obwohl es die Realität vor Ort nicht mehr widerspiegelt, wird es nahezu unmöglich machen, den sicherheitspolitischen Wettstreit zu bestimmen.
Eine vorübergehende Strategie
Chinas friedlicher Aufstieg in seiner früheren Form war grösstenteils eine zeitweilige Strategie. Chinas friedlicher Aufstieg ging mit einer raschen Industrialisierung und dem Aufbau seiner wirtschaftlichen Stärke einher, ohne sich allzu sehr an internationalen Angelegenheiten zu beteiligen, um keine unerwünschten Bedenken bei anderen Grossmächten zu wecken. Nach Deng Xiaopings eigenen Worten bedeutete ein friedlicher Aufstieg, dass China das Ziel verfolgte, «abzuwarten und seine Fähigkeiten zu verbergen». China verfolgte ein exportorientiertes Entwicklungsmodell, um sich rasch zu industrialisieren, riesige Mengen an Devisenreserven aufzubauen und schrittweise in den globalen Wertschöpfungsketten aufzusteigen. Was würde passieren, wenn China seine Fähigkeiten nicht mehr länger verbergen könnte?
Diese «für beide Seiten vorteilhafte» Partnerschaft mit den USA war nicht nachhaltig, da China seine industrielle Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA schrittweise steigern würde und die USA weiterhin mehr Geld nach China schicken würden, um chinesische Waren zu kaufen. Irgendwann würden die USA die Beziehung beenden wollen, da die Verschuldung untragbar wird und der Verlust der Produktionskraft eine Erholung verhindert. Die chinesische Seite würde in ähnlicher Weise versuchen, die Partnerschaft umzustrukturieren, da die wachsende Verschuldung der USA zu einer Schwachstelle wird, weil die USA nicht in der Lage wäre, ihre Schulden zu bezahlen. Wie John Maynard Keynes es treffend formulierte: «Wenn Sie Ihrer Bank hundert Pfund schulden, haben Sie ein Problem. Wenn Sie Ihrer Bank aber eine Million Pfund schulden, hat sie ein Problem ...»
Der Knackpunkt für die Beziehung wurde die globale Finanzkrise 2008/2009, als die USA feststellten, dass Kreditaufnahme und Ausgaben kein nachhaltiges Wirtschaftsmodell waren, während die Chinesen zur Kenntnis nahmen, dass die USA ihre Haushaltsdisziplin nicht zurückerlangen würden. Washingtons Politik, sich durch «Schuldenmachen und Konsumieren» wieder zu Wohlstand zu bringen, bedeutete, dass China entweder mehr in die zunehmend insolventen USA investieren oder alternativ die Abwertung seiner bestehenden Investitionen zu akzeptieren, da die US-Notenbank das Geld drucken würde. Die USA erpressten China praktisch, indem sie forderten, dass China ihnen entweder mehr Geld leiht oder die USA das Geld drucken würden. Washington begann auch zu erkennen, dass die gegenseitige Abhängigkeit nicht am absoluten Gewinn, sondern am relativen Gewinn gemessen werden sollte.
Es war absehbar, dass China das von den USA geführte internationale Wirtschaftssystem überholen würde und damit die Vormachtstellung der USA in Frage gestellt wäre. China musste sich von der übermässigen Abhängigkeit von den USA lösen, indem es sich mit den anderen eurasischen Giganten verband, in Afrika Fuss fasste und sogar in Lateinamerika, dem «Hinterhof» der USA, vorstiess. Die USA würden diese Herausforderung ihrer Vormachtstellung natürlich als Bedrohung betrachten, und dann wäre es sehr gefährlich, sich zu sehr auf die USA zu verlassen. Die übermässige Abhängigkeit Chinas von US-Technologien würde bedeuten, dass Washington die chinesischen Lieferketten unterbrechen könnte. Die übermässige Abhängigkeit von Transportkorridoren und Engpässen unter der Kontrolle der US-Marine würde bedeuten, dass China von den Hauptverkehrsadern des internationalen Handels abgeschnitten werden könnte. Die übermässige Abhängigkeit von US-Banken, Zahlungssystemen und dem Dollar bedeutet, dass die USA Chinas Finanzwesen lahmlegen könnte. Darüber hinaus würden die USA beginnen, Chinas Souveränität über Taiwan in Frage zu stellen, Hongkong und Xinjiang mit «Menschenrechts-NGOs» zu destabilisieren und Chinas Nachbarn in ein konfrontatives US-Bündnissystem zu ziehen.
Ein selbstbewusster US-Hegemon versucht, Vertrauen aufzubauen, indem er sich auf seine internationale Wirtschaftsarchitektur und die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz verlässt. Aber ein US-Hegemon im Niedergang ist vorhersehbar extrem bösartig und nutzt seine administrative Kontrolle über das internationale Wirtschaftssystem, um Rivalen zu schwächen oder zu zerstören.
Was wäre nach der globalen Finanzkrise ein guter Rat für China? China sollte seine Wirtschaftspartner diversifizieren, um die Abhängigkeit von den USA zu verringern. Es sollte sich auf eine zunehmend aggressive US-Politik vorzubereiten, die darauf abzielt, China in seiner Grösse zu stutzen. China begann daraufhin, ehrgeizige Industriestrategien auf den Weg zu bringen, um die Führung in den modernsten Technologien im Zusammenhang mit der Vierten Industriellen Revolution zu übernehmen. Es entwickelte die Belt & Road Initiative, um sich mit der übrigen Welt zu verbinden, und neue Finanzinstrumente wie alternative Entwicklungsbanken, Zahlungssysteme und den Handel mittels nationalen Währungen. Darüber hinaus begann China mit dem Aufbau einer mächtigen militärischen Abschreckung und bereitete sich darauf vor, die Abriegelung der US-Inselketten zu durchbrechen.
Amerika – gemeinsame Verantwortung
Ein «friedlicher Aufstieg» kann als ein doppelter Prozess betrachtet werden. China muss bereit sein, sich in die Regeln und Strukturen der internationalen Ordnung zu integrieren, während gleichzeitig die das bestehende System dominierende Macht bereit sein muss, sich zu reformieren und anzupassen, um China entgegenzukommen. Die Beibehaltung einer hegemonialen Strategie in einer multipolaren Welt bedeutet, dass jegliche Anstrengungen zur Reduzierung des Sicherheitswettbewerbs aufgegeben werden müssen, da Unipolarität die Eindämmung, Schwächung oder Zerstörung aufstrebender Rivalen erfordert.
Washington hat China in den bestehenden Strukturen nicht ausreichend berücksichtigt, was China dazu zwang, alternative Wirtschaftsstrukturen zu entwickeln. Die USA haben sich beispielsweise geweigert, China entgegenzukommen, indem sie die Mechanismen der US-Vorherrschaft innerhalb von Institutionen wie dem IWF, der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank zu ihren Ungunsten geändert hätten. Chinas technologische Entwicklung wird durch wirtschaftlichen Zwang sabotiert, der eindeutig gegen die Regeln der WTO verstösst. Die USA halten sich nicht mehr an die Regeln des von den USA geführten internationalen Wirtschaftssystems.
Die USA entwickeln neue Regeln, denen die andere Seite nicht zustimmen kann, und stören so die Stabilität. Die Absicht, China an den Rand zu drängen, wurde in einem Gastbeitrag von Obama aus dem Jahr 2016 deutlich, in dem er die These aufstellte, dass «die Welt sich verändert hat. Die Regeln ändern sich mit ihr. Die Vereinigten Staaten, nicht Länder wie China, sollten sie festlegen». Der Wirtschaftskrieg, der sich unter der Präsidentschaft von Trump und dann von Biden weiter verschärfte, wurzelte in dem Versäumnis, Verschiebungen in der internationalen Machtverteilung zu bewältigen. Die Bemühungen, ein Europa ohne Russland als grössten europäischen Staat aufzubauen, führten vorhersehbar zu Konflikten, und der Versuch, ein Asien zu schaffen, in dem China nur Zuschauer ist, wird die gleichen Folgen haben.
Ein neues Format für einen friedlichen Aufstieg?
Seit Jahrzehnten äussert China offen seine kritische Haltung gegenüber einem System, das auf der Hegemonie der USA basiert, da es unflexibel ist, wenn es darum geht, den Aufstieg anderer Mächte und Verschiebungen in der internationalen Machtverteilung zu akzeptieren. Allein der Aufstieg anderer Mächte droht ein Hegemoniesystem zu stören. Auch Chinas Wunsch, Alternativen zu entwickeln, ist nicht neu. 1990 erklärte Deng Xiaoping vor Mitgliedern des Zentralkomitees, dass sich die Welt in Richtung Multipolarität bewege:
«Die Situation, in der die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion alle internationalen Angelegenheiten beherrschten, ändert sich. Dennoch wird die Sowjetunion, wenn die Welt in Zukunft drei-, vier- oder fünfpolig wird, immer noch ein Pol sein, egal wie geschwächt sie sein mag und selbst wenn sich einige ihrer Republiken von ihr zurückziehen. In der sogenannten multipolaren Welt wird auch China ein Pol sein. Wir sollten unsere eigene Bedeutung nicht herunterspielen: So oder so wird China als ein Pol gezählt werden. Unsere Aussenpolitik bleibt dieselbe: erstens, gegen Hegemonie und Machtpolitik und für den Schutz des Weltfriedens; und zweitens, für die Schaffung einer neuen internationalen politischen Ordnung und einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung.»
China hat seinen «friedlichen Aufstieg» nicht unbedingt aufgegeben, sondern lediglich neu formuliert. Ein friedlicher Aufstieg bedeutet nicht mehr, seine Stärke innerhalb des hegemonialen Systems der USA aufzubauen und zu verbergen, um unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden. Vielmehr bedeutet ein friedlicher Aufstieg die Entwicklung eines multipolaren Wirtschaftssystems, das besser in der Lage ist, Veränderungen in der internationalen Machtverteilung zu bewältigen und so seine Interessen mit denen anderer Grossmächte in Einklang zu bringen.
* Glenn Diesen (geboren 1979) ist ein norwegischer Politologe und ordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Südost-Norwegen. In seiner Dissertation befasste er sich mit zwischenstaatlichen Institutionen, die der Gewährleistung kollektiver Sicherheit dienen, und sicherheitspolitischen Problemen, speziell mit den Beziehungen der EU und der Nato zu Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Seine neueste Publikation ist «The Ukraine War & the Eurasian World Order», erschienen 2024 bei Clarity Press. |
Quelle: https://glenndiesen.substack.com/p/can-china-rise-peacefully, 16. November 2024
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)