«Krieg und Enteignung: Die Übernahme des ukrainischen Agrarlandes»

von «The Oakland Institute»,* Kalifornien, USA

Seit der russischen Invasion im Februar 2022 steht der Krieg in der Ukraine im Mittelpunkt der aussenpolitischen Fragen und der Medien. Wenig Aufmerksamkeit wurde jedoch einer wichtigen Frage gewidmet, die im Mittelpunkt des Konflikts steht: Wer kontrolliert das Agrarland in dem Land, das als «Kornkammer Europas» bekannt ist?

Blick auf ein Weizenfeld zur Erntezeit in der Nähe des Dorfes Krasne,
Ukraine 5. Juli 2019. (Photo © FAO/Anatolii Stepanov

Der Bericht «Krieg und Enteignung: Die Übernahme des ukrainischen Agrarlandes» schliesst diese Lücke, indem er die Interessen identifiziert, die das ukrainische Agrarland kontrollieren, und eine Analyse der Dynamiken vorlegt, die rund um die Grundbesitzverhältnisse im Lande ablaufen. Dazu gehört auch die höchst umstrittene Landreform, die 2021 als Teil des Strukturanpassungsprogramms stattfand, das unter der Schirmherrschaft westlicher Finanzinstitutionen ins Leben gerufen wurde, nachdem nach der Maidan-Revolution 2014 eine EU-freundliche Regierung eingesetzt worden war.

Mit 33 Millionen Hektar Ackerland verfügt die Ukraine über grosse landwirtschaftliche Flächen, die zu den fruchtbarsten der Welt gehören. Seit den frühen 1990er Jahren haben fehlgeleitete Privatisierungen und eine korrupte Regierungsführung den Boden in den Händen einer neuen oligarchischen Schicht konzentriert. Etwa 4,3 Millionen Hektar werden für die industrielle Landwirtschaft genutzt, wobei sich der Grossteil, nämlich drei Millionen Hektar, in den Händen von einem Dutzend grosser Agrarunternehmen befindet. Zusätzlich wurden der Regierung zufolge rund fünf Millionen Hektar – zweimal die Grösse der Krim – dem ukrainischen Staat von privaten Interessen «gestohlen». Die Gesamtfläche des von Oligarchen, korrupten Einzelpersonen und grossen Agrarunternehmen kontrollierten Landes beläuft sich somit auf über neun Millionen Hektar, was mehr als 28% des Ackerlandes des Landes entspricht. Der Rest wird von über acht Millionen ukrainischen Landwirten genutzt.

Diejenigen, die das ukrainische Land heute kontrollieren, sind eine Mischung aus Oligarchen und verschiedenen ausländischen Interessen – hauptsächlich aus Europa und Nordamerika, einschliesslich eines privaten Investmentfonds mit Sitz in den USA und des Staatsfonds von Saudi-Arabien. Bis auf eine Ausnahme sind die zehn Unternehmen, die das meiste Land kontrollieren, im Ausland registriert, hauptsächlich in Steueroasen wie Zypern oder Luxemburg. Selbst wenn sie von einem Gründeroligarchen geleitet und immer noch weitgehend kontrolliert werden, sind einige dieser Unternehmen an die Börse gegangen, da westliche Banken und Investmentfonds inzwischen einen erheblichen Teil ihrer Aktien kontrollieren.

Der Bericht nennt zahlreiche Grossinvestoren, darunter die Vanguard-Gruppe, Kopernic Global Investors, BNP Asset Management Holding, NN Investment Partners Holdings (eine Tochtergesellschaft von Goldman Sachs) und Norges Bank Investment Management, die den norwegischen Staatsfonds verwaltet. Mehrere grosse US-amerikanische Pensionsfonds, Stiftungen und Universitätsstiftungsfonds haben über NCH Capital – einen privaten Investmentfonds mit Sitz in den USA, der der fünftgrösste Landbesitzer der Ukraine ist –ebenfalls in ukrainisches Land investiert.

Die meisten dieser Unternehmen sind bei westlichen Finanzinstitutionen verschuldet, insbesondere bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), der Europäischen Investitionsbank (EIB) und der International Finance Corporation (IFC) – dem Privatsektorarm der Weltbank. Zusammen waren diese Institutionen wichtige Kreditgeber für die Agrarindustrie in der Ukraine, wobei in den letzten Jahren fast 1,7 Milliarden US-Dollar an nur sechs der grössten Agrarunternehmen verliehen wurden. Weitere wichtige Kreditgeber sind eine Mischung aus hauptsächlich europäischen und nordamerikanischen Finanzinstitutionen, sowohl öffentlichen als auch privaten.

Die westlichen Finanzierungen für die Ukraine in den letzten Jahren waren mit einem drastischen Strukturanpassungsprogramm verbunden, das Sparmassnahmen und Privatisierungen erforderte, einschliesslich der Schaffung eines Grundstücksmarkts für den Verkauf von Agrarland. Präsident Zelensky verkündete die Landreform im Jahr 2020 gegen den Willen der grossen Mehrheit der Bevölkerung, die befürchtete, dass sie die Korruption verschärfen und die Kontrolle mächtiger Interessen im Agrarsektor stärken würde. Die Ergebnisse des Berichts bestätigen diese Befürchtungen.

Während Grossgrundbesitzer massive Finanzierungen von westlichen Finanzinstituten erhalten, erhalten die ukrainischen Landwirte – die für die Nahrungsmittelversorgung des Landes von entscheidender Bedeutung sind – praktisch keine Unterstützung. Angesichts des bestehenden Grundstücksmarktes, des hohen wirtschaftlichen Stresses und des Krieges wird diese Ungleichbehandlung zu einer weiteren Konsolidierung von Boden durch grosse Agrar- und Lebensmittelunternehmen führen.

Der Bericht schlägt auch Alarm, dass die erdrückende Verschuldung der Ukraine von den Finanzinstitutionen als Hebel benutzt wird, um den Nachkriegswiederaufbau in Richtung weiterer Privatisierungs- und Liberalisierungsreformen in mehreren Sektoren, einschliesslich der Landwirtschaft, zu lenken.

Quelle: https://www.oaklandinstitute.org/guerre-spoliation-prise-controle-terres-agricoles-ukrainiennes, 4. Mai 2023

*  The Okland Institute: «Der Wandel beginnt mit informierten und aktiven Bürgern. Das Oakland Institute ist eine unabhängige politische Denkfabrik, die frische Ideen und mutige Maßnahmen zu den drängendsten sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Fragen unserer Zeit liefert. Wir sind für unsere sorgfältige Forschung und Analyse bekannt. Unsere Arbeit wird von politischen Entscheidungsträgern, Akademikern und den Medien aufgegriffen. Viele unserer Kampagnen haben zu internationalen politischen Veränderungen geführt.»
Homepage: https://www.oaklandinstitute.org/about

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

PDF des Berichts

in Französisch:
«Guerre et spoliation: la prise de contrôle des terres agricoles ukrainiennes»
https://www.oaklandinstitute.org/sites/oaklandinstitute.org/files/guerre-et-spoliation.pdf

in Englisch:
«War and Theft: The Takeover of Ukraine’s Agricultural Land»
https://www.oaklandinstitute.org/war-theft-takeover-ukraine-agricultural-land

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