Projekte, wie sie Sinn machen
Ein Tag im Wald mit Kindergartenkindern
von Barbara Roth
Die Kindergärtnerin Barbara Roth beschreibt ein Projekt, das sie mit ihren Kindern durchgeführt hat. Im Gegensatz zu dem, was heute unter Stichworten wie «Erlebnispädagogik» gängig ist, steht dieses Projekt beispielhaft dafür, wie man Kinder anleiten und gleichzeitig zur Eigenaktivität hinführen kann. Es zeigt, wie sie mit Eifer und Freude lernen und wertvolle Erfahrungen sammeln.
Wegen Corona musste die diesjährige Projektwoche in der direkten Umgebung stattfinden, ohne Einbezug der öffentlichen Verkehrsmittel. Wir wählten das Thema Wald, da es in der direkten Umgebung viel Wald gibt. Geplant waren vor allem Aktivitäten im Wald, unter anderem ein Vormittag mit dem Förster.
An diesem Morgen ist es eisig kalt. Obwohl es Anfang April ist, liegt Schnee. Die Wetterprognosen sind für einen Ausflug nicht ideal. Den ganzen Vormittag ist Schneetreiben vorausgesagt. Soll ich unter diesen Bedingungen vier Stunden mit 18 fünf- bis sechsjährigen Kindern im Wald verbringen? Ich habe das Treffen mit dem Förster geplant und gemeinsam beschliessen wir, trotz arktischer Temperaturen diesen Morgen durchzuführen.
Der Förster – eine erwachsene Respektperson
Dick und warm eingepackt zieht die kleine Schar los. Bis zum vereinbarten Treffpunkt haben wir einen einstündigen Fussmarsch zu absolvieren. Bei der Begrüssung bespricht unser Förster mit den Kindern, wie wir uns im Wald verhalten sollen. Er erklärt: «Der Wald gehört den Tieren und den Bäumen. Wir sind Gast im Wald. Und deshalb müssen wir uns auch wie Gäste benehmen: Nicht rumschreien, nichts wegwerfen oder liegenlassen, nichts kaputtmachen.»
Er erklärt es ernst und spricht damit die Kinder an, sodass sie sich ernst genommen fühlen. Er gibt ihnen etwas an die Hand, so wissen die Kinder, worum es geht. Er sagt, dass sie es auch nicht gut finden würden, wenn sich ein Besuch bei ihnen zu Hause nicht an die Familienregeln hält. Der Förster selbst wird mit dieser ernst gemeinten und klaren Ansprache für die Kinder zu einer erwachsenen Person, an der sie sich orientieren können. Ernst und aufmerksam hören sie zu.
Und so führt der Förster sehr klar durch den ganzen Vormittag, leitet die Kinder an, erklärt, zeigt, lässt sie dann selber etwas machen, hilft nur, wenn es nötig ist.
Er erklärt den Kindern, welche Aufgaben er als Förster hat. Ein wichtiger Teil seiner Arbeit sei die Pflege der Bäume. Er fragt die Kinder, wofür wir Holz brauchen. Die Kinder zählen auf, was bei ihnen zu Hause und im Kindergarten aus Holz gefertigt ist.
Jedes Kind pflanzt zwei Bäume
Der Förster informiert uns, dass er dafür verantwortlich ist, dass alte und kranke Bäume gefällt und neue gepflanzt werden. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass sowohl Nadel- wie auch Laubbäume zu einem gesunden Wald gehören. Er führt uns an eine Lichtung, die er frisch gerodet hat. Jedes Kind bekommt je einen kleinen Nadel- und Laubbaum mit Wurzelballen. Sie sollen sich einen Ort suchen, wo sie die zwei Bäume pflanzen möchten und einen genug grossen Abstand dazwischen einhalten. Dabei müssen sie über die herumliegenden Äste klettern. Einige Kinder stolpern dabei und fallen hin. Kein Kind beginnt zu weinen oder zu jammern, sie sind ganz damit beschäftigt, einen geeigneten Pflanzplatz zu finden. Als erstes müssen sie den ausgesuchten Platz von den Ästen säubern. Dann kommt der Förster und bohrt mit einem Spezialgerät ein Loch in den Boden. Die Kinder pflanzen ihre Bäumchen und decken den Wurzelballen mit der kalten Erde ein.
Der Förster ruft alle Kinder zu sich. Er erklärt, dass die Bäumchen von den Rehen gefressen werden, wenn sie nicht geschützt werden. Dazu zeigt er Kunststoffrohre, die über die Bäumchen gestülpt und an einem Pfosten befestigt werden.
Nun müssen alle Kinder zwei Kunststoffrohre und zwei Pfähle beim Auto des Försters abholen und zu «ihren Bäumchen» gehen. Sie müssen warten, bis der Förster bei jedem Kind die zwei Pfosten in den Boden gehämmert hat. Nun können sie die Rohre über die Pflanzen stülpen.
Bei einem späteren Spaziergang im Wald, bemerkten die Kinder an verschiedenen Orten «eingepackte Bäumchen», was ihnen vorher nie aufgefallen war.
Nach getaner Arbeit führt der Förster uns zu einem gefällten schneebedeckten Baum. Dort können die Kinder absitzen und ihren Znüni (Pausenimbiss) essen. Der Förster sagt den Kindern, dass er oft mit seinen Kollegen auch im Winter seinen Znüni so isst. Wieder beklagt sich kein Kind über diese spezielle Situation.
Kinder an der Kettensäge
Nach der Pause führt uns der Förster zu einer Holzbeige (Holzstapel). Dort holt er aus dem Auto eine Kettensäge und einen Helm mit Gehörschutz. Er bereitet einen Baumstamm so vor, dass er nicht davon rollen kann. Dann zeigt er den Kindern, wie man einen liegenden Stamm zersägt. Er fragt die Kinder, wer eine Holzscheibe absägen möchte. Die Kinder sind begeistert.
Kleine Mädchen bekommen den Helm mit Visier und Gehörschutz angezogen. Mit ihren zarten Händchen können sie so die beeindruckend schwere, laute Motorsäge mit Hilfe des Försters handhaben, sich eine Scheibe absägen und diese eigenhändig abgesägte Scheibe mit nach Hause nehmen.
Am Schluss schenkt uns der Förster eine kleine Tanne mit Wurzelballen und schlägt uns vor, diese im Garten des Kindergartens einzupflanzen. Nachdem wir uns beim Förster bedankt und von ihm verabschiedet haben, machen wir uns auf den stündigen Heimweg. Die Kinder machen sich Gedanken, wofür sie die Holzscheibe brauchen möchten. Von einer Käseplatte bis zum Untersatz für Pfannen kommen ihnen immer neue Verwendungszwecke in den Sinn.
Trotz Eis, Schnee und Widrigkeiten: Kein Kind hat gejammert
Am Ende der Projektwoche frage ich die Kinder, was ihnen in dieser Woche gut gefallen hat. Die meisten Kinder erzählen vom Morgen im Wald mit dem Förster.
Auch ich gebe den Kindern eine Rückmeldung und sage ihnen, dass wir einen schönen Morgen hatten und dass mir gut gefallen hat, wie sie dem Förster aufmerksam zugehört und so tüchtig angepackt haben. Ich habe mich gefreut, dass trotz Kälte und Schnee alle Kinder gute Laune hatten.
Projekte, wie sie Sinn machen
In der heutigen Pädagogik ist viel von Projekten die Rede. Oft ist damit die Idee verbunden, dass Kinder selbständig überlegen sollen, was sie wollen, sie sollen eigenständig einen Plan erstellen und das nötige Material besorgen. Oder man führt die «Kids» in den Wald und ermöglicht ihnen in der spontanen Konfrontation mit der jeweiligen Umgebung, den Pflanzen, dem Holz, den Tieren, das sogenannte «Walderlebnis», das pure, reine «Erlebnis Wald», sprich: ein möglichst nicht durch Erwachsene beeinflusstes oder «gegängeltes» oder «vorgespurtes», sondern ein quasi unverfälschtes, direktes «Spüren, Fühlen, Riechen, Ertasten, etc.» als «Erlebnis pur» an der jeweiligen Sache. Manchmal werden auch sogenannte «Erlebnisstationen» vorbereitet, wo dann die Kinder selbsttätig ihre «Erlebnisse» machen können: spontan, eigenaktiv, individuell …
Es wird davon ausgegangen, dass Kinder dann am besten lernen, wenn sie eine «intrinsische Motivation» verfolgen, also aus sich selbst heraus Ideen, Pläne und Handlungen entwickeln. Wenn Erwachsene anleiten, führen, planen, vorgeben – so die Ideologie – würden die Kinder in ihrer Kreativität behindert, sie könnten wenig bis nichts lernen, ihre Lernmotivation würde gestört oder gar abgetötet. Was aber hätten diese Vier- bis Sechsjährigen im Wald lernen können, was hätten sie selbst entwickeln können, um Lernfortschritte zu machen? Was hätten sie «aus sich selbst schöpfen» können, das sie mit Stolz erfüllt und ermutig hätte? Wie hätten sie erfahren können, wie man einen Baum pflanzt? Dass junge Pflanzen geschützt werden müssen? Ganz zu schweigen davon, dass man ihnen nie eine Motorsäge einfach so hätte überlassen können.
Wie Erwachsene den Kindern ein echtes Walderlebnis geschickt, kindgerecht und lehrreich vermitteln können, hat dieser Förster mit viel eigener Freude am Waldleben und an den Kindern mit Geduld und Gefühl vorgemacht. Aufgrund seiner Menschlichkeit und seinem Fachwissen ist für die Kinder dieser Tag im Wald zu einem positiv-bereichernden, tollen Erlebnis geworden.
Das beschriebene Projekt beweist, dass Kinder mit grossem Eifer und gern den Anregungen und Anleitungen der Erwachsenen folgen, dass sie mit Freude dabei sind, viel lernen und nachher sehr stolz auf ihre Leistungen sind.
So machen Projekte Sinn.