Vietnam und die «Diplomatie der Chips und des Bambus»
von Guy Mettan,* Genf
(25. Januar 2024) Ende 2022 habe ich eine grosse Reportage über die wirtschaftlichen Veränderungen in Vietnam veröffentlicht und dabei unter anderem die Riesenfabrik für Elektroautos von Vinfast in Haiphong besucht.1 Mit diesem Land bin ich seit fünfundzwanzig Jahren freundschaftlich verbunden. Anfang der 2000er Jahre musste ich mehrmals dorthin reisen, um ein Buch über die Genfer Abkommen vorzubereiten, die 1954 den Indochinakrieg beendeten, und ich konnte viele der Veteranen von Dien-Bien-Phu treffen, darunter den berühmten General Giap. Die Geschwindigkeit der Veränderungen, die seitdem stattgefunden haben, ist faszinierend.
Anlässlich des Besuchs des vietnamesischen Premierministers im Davoser Forum (WEF) ist es daher an der Zeit, eine erneute Bestandsaufnahme vorzunehmen. Im vergangenen Jahr war die «Diplomatie der Chips und des Bambus» nicht untätig. Hanoi nutzte die Möglichkeiten, die ihm die internationale Konjunktur mit dem Aufstieg der BRICS-Staaten und der wachsenden Rivalität zwischen dem Westen (USA, Europa, Japan und Südkorea) auf der einen Seite und China und Russland auf der anderen Seite bot, in vollem Umfang aus und vervielfachte die Zahl der Staatsbesuche und Partnerschaften mit beiden Seiten.
Fest und flexibel, zäh und geschmeidig: Vietnam wiegt sich und schwingt wie ein Bambus, fängt jede noch so kleine Brise ein und lacht über die Stürme, die den Globus erschüttern. Es streckt seine Rhizome unauffällig in alle Richtungen aus, wie die Fetischpflanze, die seine Wälder bevölkert.
So hat das Land im letzten Jahr eine Reihe hochrangiger Austauschprogramme sowohl mit China als auch mit den USA begonnen und sowohl einen Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping als auch einen Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten Joe Biden ausgerichtet, mit dem eine «integrale strategische Partnerschaft» unterzeichnet wurde.
Bisher haben sechs Länder von diesen Partnerschaften profitiert: China, Russland, Japan, Indien, die Republik Korea und die USA. Australien wird voraussichtlich noch in diesem Jahr dem Club beitreten. Ein Besuch von Präsident Macron wird im Laufe des Jahres erwartet. Frankreich strebt in der Tat eine Stärkung der Beziehungen im Bereich der Sicherheit und der Infrastrukturentwicklung an. Eine weitere neue diplomatische Initiative, diesmal in Richtung des Vatikans: Seit Dezember empfängt Hanoi zum ersten Mal seit 1945 einen Vertreter des Papstes.
Schliesslich will Vietnam seine Präsenz am WEF nutzen, um in den Bereichen, die ihm am Herzen liegen, Fortschritte zu erzielen: Innovation in der Landwirtschaft, grüne Transformation, Dekarbonisierung, Abfall- und Plastikvermeidung, Energie- und digitaler Wandel, Schaffung eines Entwicklungspols für die vierte industrielle Revolution. Ein Treffen mit Bundespräsidentin Viola Amherd ist ebenfalls geplant, in der Hoffnung, das Freihandelsabkommen Vietnam-EFTA voranzutreiben.
Mit 5,05% im Jahr 2023 lag das Wachstum leicht unter den Erwartungen. Das Land erwartet jedoch für 2024 ein BIP-Wachstum von 6–6,5%, das von robusten Importen und Exporten sowie einer stärkeren Aktivität im verarbeitenden Gewerbe getragen wird.
Hanoi hat den Ehrgeiz, ein neues Zentrum der Halbleiterindustrie (Chips) zu werden, und setzt die entsprechenden Mittel dafür ein. Diese Industrie erlebt ein starkes Wachstum mit einer Reihe von Investitionsprojekten im Milliarden-Dollar-Bereich. Das Land will 100% der Produktionsschritte für Chips «Made in Vietnam» beherrschen und will bis 2030 50 000 Fachingenieure ausbilden.
Wie Indien und die südasiatischen Länder profitiert auch Vietnam vom Attraktivitätsverlust Chinas. Es zieht zunehmend grosse Halbleiterindustrien aus den USA, Korea und Taiwan mit Investitionen von über einer Milliarde US-Dollar an, wie Intel (1,5 Milliarden US-Dollar), Hana Micron Vina aus Korea (600 Millionen, die bis 2025 eine Milliarde erreichen soll), Amkor Technology Group of Korea (1,6 Milliarden US-Dollar). Samsung steht ebenfalls in den Startlöchern. Heute entfallen auf Vietnam mehr als 10% der Gesamtmenge der in die USA importierten Halbleiterchips, womit das Land nach Malaysia und Taiwan an dritter Stelle der Chip-Exporte in die USA steht.
Auf ein Wiedersehen in einem Jahr, um zu sehen, ob die Wette gehalten wurde.
* Guy Mettan (1956) ist Politologe, freischaffender Journalist und Buchautor. Seine journalistische Karriere begann er 1980 bei der «Tribune de Genève» und war von 1992 bis 1998 deren Direktor und Chefredaktor. Von 1997 bis 2020 war er Direktor des «Club Suisse de la Presse» in Genf. Guy Mettan ist seit 20 Jahren Mitglied des Genfer Kantonsparlaments. |
1 Siehe auch «Reportage aus Vietnam» des gleichen Autors: https://swiss-standpoint.ch/news-detailansicht-de-divers/von-den-nudeln-zum-auto-das-tesla-das-fuerchten-lehrt.html