Der Lehrberuf im Wandel
Die wundersame Verwandlung des einstigen Lehrerberufs in einen Job
von Alain Pichard*
(22. August 2025) (CH-S) Am Beispiel einer erfahrenen Lehrerin wird der allmähliche Wandel in der Auffassung des Lehrerberufs skizziert. Zentrale Punkte im Berufsverständnis sind während der «Schulentwicklung» in den vergangenen Jahrzehnten offenbar verlorengegangen.
* * *

(Bild zvg)
Als kurz vor den Sommerferien 2024, also vor einem Jahr, in der Seelandgemeinde Pieterlen BE insgesamt 25 Lehrkräfte fehlten, machte sich eine adhoc eingesetzte neue Schulleitung verzweifelt auf die Suche nach Personen, die über 300 «bildungsverwaiste» Kinder in einigen Wochen unterrichten sollten. Unter anderem ackerte sie eine Liste pensionierter Lehrerinnen und Lehrer durch, und versuchte die Leute davon zu überzeugen, noch einmal für ein Jahr einzusteigen. Schliesslich konnte man 7 pensionierte Lehrkräfte davon überzeugen in Pieterlen zu unterrichten. Eine davon war Renate B., 67-jährig und seit vier Jahren pensioniert. Sie wohnt in Pieterlen und übernahm eine 4. Klasse.
Mit der ihr zugeteilten Assistenzperson konnte sie es nicht so richtig. Diese war ihr nicht zuverlässig genug. Sie trug die Verantwortung für die Klasse, und eine Aufteilung dieser Verantwortung kam für sie so nicht in Frage.

geht es darum, für das Schicksal des Einzelnen Verantwortung zu über-
nehmen.» (Bild keystone)
Sie führte die Klasse mit energischer Hand und pflegte mehrheitlich aber nicht ausschliesslich einen lehrerzentrierten Unterrichtsstil. Die Schüler wunderten sich, dass nun plötzlich ihre Handschrift kritisiert wurde und man weniger mit dem Computer arbeitete. Aber sie schätzten diese alte Dame zusehends. Vielleicht, weil sie merkten, dass sie etwas lernten, sicher aber, weil die energische Rentnerin verrückte Dinge mit ihnen unternahm.
So war der Zeichnungsraum der Schule in einem lamentablen Zustand, was Renate B. ärgerte. So beschloss sie, diesen Raum mit ihrer Klasse zu renovieren. Sie konnte dabei auf die Ressourcen aus der Elternschaft zählen und auch ihr Mann half dabei mit. Es wurde geputzt, gemalt, geräumt, geschliffen, angeschrieben, nachbestellt und eingeräumt. Der Schlussgang erfolgte an einem unterrichtsfreien Samstag, der zu einem eigentlichen Fest wurde. Niemand wollte diesen Samstag kompensiert haben. Die Eltern nicht, weil sie ja die Schule auch als «Hüteinstitution» schätzen, die Kids nicht, weil sie gerne in die Schule kamen und schon gar nicht Renate B., die ja den Kindern etwas beibringen wollte.
Eine Operation kommt erst in den Sommerferien in Frage
Für das 4. Quartal plante sie noch eine Landschulwoche mit ihrer Klasse. Sie mietete eine kleine Unterkunft im Emmental. Für dieser Woche erhielt sie Unterstützung von diversen Familienmitgliedern. Eine knappe Woche vor der Schulverlegung musste Renate B. notfallmässig ins Spital verbracht werden. Die Schulleitung war überzeugt, dass die Woche abgesagt werden müsse. Aber für Renate B. war klar, dass die Woche stattfinden müsse, das hätten ihre Schützlinge nach diesem anstrengenden Jahr verdient. Sie sagte den Ärzten: «Geben Sie mir die nötigen Medikamente, ich muss noch acht Wochen durchhalten». Eine Operation käme erst in den Sommerferien in Frage.
Gesagt, getan. Renate B. reiste mit den 4. Klässlern ins Emmental, organisierte Wettbewerbe, Nachtwanderungen, einen OL und Waldspiele und die Kinder kamen mit leuchtenden Augen zurück.
In der vorletzten Schulwoche wollte sie ihrer Klasse noch einen schönen Schulabschluss ermöglichen. Es stellte sich heraus, dass die Eltern eines Schülers am See ein Stück Land besitzen. So kamen die 4. Klässler in den Genuss einer Fahrradtour mit Badespass und Übernachtung in Zelten am Bielersee.
Noch nie eine Landschulwoche, ein Theater oder eine Übernachtung erlebt
Ein bekannter Bildungsforscher sagte mir kürzlich, dass seine Töchter jetzt in die 2. und 5. Klasse gingen. Die 2. Klasse habe sieben vorwiegend junge Lehrerinnen. Am Montagmorgen finden aus stundenplantechnischen Gründen zwei Sportlektionen und zwei Musiklektionen statt. Am Nachmittag bildnerische Gestalten. Die «harten» Fächer begännen am Dienstag.
Die beiden Kassenlehrerinnen haben sich die Woche so aufgeteilt, dass die erste am Dienstag und Mittwoch arbeitet und die andere am Mittwoch, Donnerstag und Freitag. Die Klassenführung haben sich die beiden geteilt. Angesprochen auf diese Unterrichtsorganisation entschuldigte sich die Schulleitung mit dem zurzeit herrschenden Lehrkräftemangel. Man habe derzeit einen Arbeitnehmermarkt. Die beiden Klassenlehrerinnen haben ein 20% und 40%-Pensum, mehr liege nicht drin. Die 11-jährige Tochter des Bildungsforschers habe noch nie eine Landschulwoche, ein Theater oder eine Übernachtung erlebt.
Am Oberstufenzentrum Orpund, wo der Schreiber dieser Zeilen jahrelang als Klassenlehrer wirkte, war es üblich, dass Klassenlehrkräfte am Montag den Unterricht begannen und ihn am Freitagnachmittag beendeten. Der Stundenplangestalter war angewiesen, die Pensen in diesem Sinne zu konstruieren. Inzwischen ist diese Regelung sang- und klanglos abgeschafft worden. Teilpensen, Sonderwünsche und vor allem der Wunsch nach einem verlängerten Wochenende beerdigten besagtes Konstrukt. Von den neuen Lehrkräften sei kaum einer bereit, 100% zu arbeiten und der Wunsch nach einem freien Montag oder Freitag sei immer häufiger eine Antrittsbedingung.
Junge Lehrkräfte aus der PH – kaum jemand will 100% arbeiten oder Zusatzaufgaben als Klassenlehrperson zu übernehmen
Die Ausbildung der PH, mit ihrer einengenden Fächerspezialisierung, die Hierarchisierung der Schule mit Schulleitungen, die personale Kompetenzen rigoros umsetzen, die Entmündigung der Lehrkräfte, in schulpolitischen Belangen mitwirken zu können, Sprechverbote seitens der Bildungsbehörden, die massiven Sparmassnahmen der frühen 2000er Jahre, die Illusion, Lerninhalte digitalen Lehrprogrammen zu übertragen, ein Lehrplan, den niemand versteht, oder die Abschaffung des Beamtenstatus haben ihre Spuren hinterlassen.
Wegen Flucht aus der Klassenlehrerfunktion – Lohnzustupf von 300 Fr.
Wenn man Mitarbeitende so behandelt, dann verhalten sich diese letztendlich auch so wie normale Mitarbeiter in Betrieben. Sie machen die Rechnung, sorgen selbst für akzeptable Arbeitsbedingungen und wechseln den Job, wenn es ihnen nicht mehr passt. Das hat mittlerweile auch die bernische Bildungsdirektion erkannt. Um die Flucht aus der Klassenlehrerfunktion aufzuhalten, setzte sie kürzlich auf ökonomische Anreize. Jede Klassenlehrperson erhält seit 2024 einen Lohnzustupf von Franken 300.
Auf der Strecke geblieben: Die Verantwortung für die Schülerinnen und Schüler
Damit keine Missverständnisse entstehen: Diese modernen Lehrkräfte verhalten sich in der Regel durchaus professionell. Sie versuchen ihren Job gut zu machen, beginnen den Unterricht pünktlicher, als es die «älteren Semester» früher taten und bereiten sich ordentlich auf den Unterricht vor. Sie wenden auch brav die gelernten Segnungen der in der PH dozierten modernen Pädagogik an: Selbstorganisierter Unterricht, Lehrer als Lernbegleiter oder das entlastende Modell der Selbstkontrolle durch die Schüler werden mit Überzeugung aber meist mit mässigem Erfolg eingeführt.
Auf der Strecke ist dabei das Grundprinzip des Lehrberufs liegengeblieben: Die Verantwortung für den Lernerfolg der ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schüler. Das ist mit Teilzeitpensen und der Zerstückelung der Pensen oder den oben genannten Unterrichtsmethoden kaum zu schaffen.
Es geht hier nicht darum, den Einsatz von Renate B. mit Worten wie «Engagement» oder «Herzblut» zu verklären. Es geht um die Bereitschaft, Verantwortung für das Lernen im Klassenzimmer zu übernehmen.
Es mag Leute geben, die Renate B. als eine altmodische Lehrerin wahrnehmen. Aber sich für jeden einzelnen ihrer Schüler zu interessieren und ihnen zu vermitteln: «Ich will, dass du das kannst!», ist nicht unmodern. Sie gab der Klasse den nötigen Zusammenhalt, mit Projekten, welche die Schüler stolz machten und sie wollte die ihr anvertrauten Kinder nicht dort abholen, wo sie waren, sondern ihnen zeigen, wo sie hinkommen können.
* Alain Pichard, geboren 1955, ist seit 42 Jahren Real- und Sekundarlehrer, vorwiegend an Brennpunktschulen in Biel, Mitinitiator des Memorandums «550gegen550», Mitherausgeber des «Einspruch», Gründer des «Lehrlings-und Migrantentheaters «TheaterzoneBiel», Gewerkschafter, Mitglied der Grün-liberalen Partei (GLP). |
Quelle: https://condorcet.ch/2025/07/die-wundersame-verwandlung-des-einstigen-lehrerberufs-in-einen-allerweltsjob/, 28. Juli 2025