Die atomare Bedrohung ernst nehmen

von Dr. med. Sabine Vuilleumier-Koch

(20. Juni 2022) Westliche Medien und politische Entscheidungsträger ignorieren oder bagatellisieren die Gefahr eines atomaren Krieges, der sich über die ganze Welt ausbreiten könnte. Atomwaffen sind eine verdrängte Wirklichkeit.

Zum Glück aber gibt es – seit der Erfindung der Atombombe 1945 und auch heute – Organisationen und Menschen, die uns die zerstörerischen Wirkungen der Atombombe (wieder) vor Augen führen. Nichts von dem, was wir kennen, was uns lieb und teuer ist, würde übrig bleiben. Die von verschiedenen Autoren präzise beschriebenen Schreckensszenarien müssen zur Kenntnis genommen werden.

Erinnerung an den Atombombenabwurf in Nagasaki 1945

In Heiden, einem Dorf in der Ostschweiz, steht das Henry-Dunant-Museum, benannt nach dem Gründer des Roten Kreuzes.* Henry Dunant (1828–1910) verbrachte in diesem Haus die letzten 18 Jahre seines Lebens. Zu seinen Ehren schenkte die japanische Stadt Nagasaki – am 9. August 1945 durch eine amerikanische Atombombe praktisch vollständig zerstört – dem Museum eine etwas kleinere Kopie der Glocke, die man in den verkohlten Trümmern der Urakami-Kathedrale gefunden hatte: ein Geschenk im Anliegen, den Friedensgedanken in die Welt hinauszutragen. Im Oktober 2009 erhielt die «Friedensglocke von Nagasaki» einen würdigen Platz beim Henry-Dunant-Museum. Jährlich findet am 9. August dort die «Peace Bell-Gedenkfeier» mit dem Läuten der Glocke um 11.02 Uhr in Erinnerung an den Atombombenabwurf statt.**
*     https://www.dunant-museum.ch/de
**    https://www.museen-im-appenzellerland.ch/veranstaltungen?tx_news_pi1%5Baction%5D=list&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&cHash=535a575272beedff9291c5191b8c91a9#news1663

Verheerende Wirkungen

In Nagasaki wurden «36 000 Menschen sofort getötet und über 100 000 verletzt. Weitere 37 000 Menschen starben innerhalb der nächsten fünf Jahre aufgrund der radioaktiven Strahlung. Insgesamt wurde mehr als die Hälfte der Bewohner von Nagasaki getötet oder verletzt.» Im Faltblatt des Henry-Dunant-Museums (siehe Kasten) mit dem Titel «Die Friedensglocke von Nagasaki» wird dem Leser unmissverständlich vor Augen geführt, wie Atombomben wirken.

«Die Druckwelle verursachte im Umkreis von einem Kilometer den sofortigen Tod. Die enorme Hitzewelle verkohlte menschliche Körper. Im Umkreis von drei Kilometern entstanden stärkste Verbrennungen und Hautschäden. Die atomare Strahlung zerstörte die Zellen aller Lebewesen in unmittelbarem Umkreis. In erweitertem Umkreis kam es zu massiven Folgeschäden und Krebserkrankungen.»

Die enorme Druckwelle verursachte im Umkreis von 1km den sofortigen Tod. Durch die Hitzewelle wurden Körper im Umkreis von
500 m umgehend verkohlt. Die extreme Hitze löste die Haut vom Fleisch. Stärkste Verbrennungen und Hautschäden entstanden
im Umkreis von 3km. Atomstrahlen durchdringen den Körper und bewirken eine Zerstörung der Zellen aller Lebewesen.
Nach 3 Stunden: Erschöpfung, Mattigkeit, Brechreiz – Nach 3 Tagen: Störungen Verdauungstrakt – Nach 3 Wochen: gestörte
Blutbildung, Haarausfall, Gewebezerfall, Organschädigung – Selbst nach Jahren sind Krebserkrankungen die Folge der Strahlung!

Paul Takashi Nagai, Friedrich Seizaburo
Nohara: Die Glocken von Nagasaki.
Geschichte der Atombombe

«Der nächste Krieg ist Selbstmord der Menschheit!»

Der Atomwissenschaftler und Arzt Dr. Paul Takashi Nagai befand sich am 9. August 1945 um 11.02 Uhr an seinem Arbeitsplatz. Er war Leiter des Röntgeninstituts der Medizinischen Fakultät von Nagasaki. Wie die Medizinstudenten, Professorenkollegen, Krankenschwestern und Menschen draussen in der Umgebung wurde er von der Explosion der Atombombe in einer Entfernung von 300–600 Meter vollkommen überrascht. Sein Buch «Die Glocken von Nagasaki»1 erschien 1950, Dr. Nagai verstarb im Frühling 1951 an der «Atomkrankheit.»

Als Arzt und Forscher gab er sich mit dem Schreiben des Buches zwei Aufgaben: Er hielt es für wichtig, «dass ein wahrheitsgetreuer und aktueller Bericht niedergelegt werde», und zweitens wollte er «der Welt zurufen, sie solle nie wieder einen neuen Krieg zulassen.» — Sämtliche Messinstrumente waren bei der Explosion zerstört worden.

In seinem Buch werden für den Leser die Auswirkungen der Atombombe in unmittelbare Nähe gerückt. Die Menschen, mit denen Dr. Nagai täglich zusammenarbeitete und die Hunderte, die zu seinen Patienten wurden, stehen dabei im Mittelpunkt. Betroffen von der Atombombe war die Zivilbevölkerung von Nagasaki.

Druckwelle

Nach einem Blitz folgte unmittelbar die Druckwelle. Die Fensterflügel seines Labors flogen auf, ein furchtbarer Windstoss warf seinen Körper in die Luft. Splitter der Fensterscheibe drangen auf der ganzen rechten Seite in seinen Leib, tiefe Wunden über dem rechten Auge und Ohr «spieen warmes Blut aus, das mir über Wange und Nacken rann.» Unter einer Masse von Holz, Glas und Dreck begraben schrie er um Hilfe, «aber meine Stimme verhallte hoffnungslos im Dunkel.»

Es folgen Berichte von Mitarbeitern, die überlebten. Eine Krankenschwester schaute zum Fenster hinaus auf die Stadt: «Die Fabriken, aus deren Schloten der Rauch emporgestiegen, waren weg. Wohin? Der noch vor einem Moment grün bewaldete Inasa-Berg war nichts als ein nackter Fels. Alles Grün, Laub und Gras war verschwunden. Die Erde war blossgelegt.»

Die Studenten der ersten Semester folgten einer Anatomie-Vorlesung. «Dann kam der Blitz – und ihre Welt brach zusammen. Noch klang in ihren Ohren die Stimme des Professors nach. Es blieb ihnen keine Zeit auf- oder umherzublicken. Es geschah, und schon war’s aus! Das schwere Dach erschlug sie, wie sie da sassen und der Vorlesung lauschten …»

Direkte Verbrennungen durch die Hitzewelle. (Alle Legenden für diesen Artikel sowie
die Bilder selbst wurden dem oben erwähnten Faltblatt entnommen.)

Hitzewelle

Die Hitzewelle löste unzählige Brände aus, ein heisser, beizender Rauch nahm die Räume ein, ganze Gebäude brannten nieder. Menschen verbrannten lebendigen Leibes. Dr. Nagai wurde von Kollegen aus den Trümmern befreit; trotz des Grauens mit Bergen von verkohlten Leichen, nahmen sie zusammen die Aufgabe der Versorgung der Verwundeten wahr.

Als die Flammen jeden Winkel des Geländes einzunehmen begannen, schleppten sie die Verletzten einen nahen Hügel hinauf und legten sie ins Gras – viele verstarben dort an ihren Verletzungen.

Später konnte ein Lazarett errichtet werden, Dr. Nagai und die wenigen Überlebenden – Ärzte und Krankenschwestern – machten sich auf den Weg in die umliegenden Dörfer, um die dortigen Verletzten und Verbrannten zu pflegen – eine physische und psychische Herkulesarbeit, die sie selbst zusammenbrechen liess.

Strahlung

Den japanischen Wissenschaftlern war nicht bekannt gewesen, dass die Amerikaner die Atombombe bereits bis zur Einsatzfähigkeit entwickelt hatten. Nun sahen sie sich selbst als Objekt des Experiments und erfuhren am eigenen Leib die Wirkung der Bombe.

Da Dr. Nagai bei seinen Radium-Experimenten bereits Gammastrahlen ausgesetzt gewesen war, war ihm klar, dass seine rasch auftretenden Symptome wie Mattigkeit im ganzen Körper, Kopfschmerz, Brechreiz bis zum Erbrechen, Benommenheit und physische Schwäche auf die Strahlung zurückzuführen waren.

Von der Atombombe waren auch Neutronen freigesetzt worden, deren Wirkung er noch nicht kannte. Er war sich bewusst, dass nach einer «stillen Phase» mit dem Auftreten von noch unbekannten Störungen im menschlichen Körper zu rechnen war. «Eine neue Krankheit, eine neuartige, bislang unbekannte Krankheitsgruppe ist von den Menschen selbst geschaffen worden».

Im Kapitel «Die Krankheit» beschreibt er detailliert die Folgen der Bestrahlung, die für jüngere Menschen stärker sind und je nach Organ früher oder später auftreten. Zuerst ist das Knochenmark betroffen, der Ort der Blutbildung, was zur Abnahme der Blutzellen, dann zur vermehrten Bildung von nicht funktionierenden weissen Blutkörperchen, der Leukämie, führen kann.

Selbst unter Schmerzen durch seinen körperlichen Zerfall leidend, dokumentierte Dr. Nagai alle Leiden, die ihm begegneten und die ihm später, als er sich selbst nicht mehr von seinem Bett erheben konnte, zugetragen wurden.

Nie wieder!

Das Buch von Dr. Nagai fand grosse Anerkennung. Es sollte dringend wieder aufgelegt werden, um die in Vergessenheit geratenen zerstörerischen Wirkungen der Atombombe auch den Menschen von heute (wieder) zur Kenntnis zu bringen. Es darf sich nicht wiederholen, was die Menschen in Hiroshima und Nagasaki erleben mussten. Selbst die Wissenschaftler, die die Atombombe entwickelt hatten, wurden sich nach dem Abwurf bewusst: So etwas sollte nie wieder geschehen!2

1 Paul Takashi Nagai, Friedrich Seizaburo Nohara: Die Glocken von Nagasaki. Geschichte der Atombombe. ISBN: 3877210341. Zurzeit nicht oder nur antiquarisch erhältlich.

2 https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-gesellchaft/denken-sie-nicht-an-das-undenkbare.html

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