Warum Frieden jederzeit möglich ist

Anknüpfen an die europäischen Friedenstraditionen

von Robert Seidel

Es kann heute nur darum gehen, Wege zum Frieden zu suchen und alle Kräfte zu unterstützen, die diesen Weg beschreiten. Alle anderen Optionen sind im 21. Jahrhundert durch die atomare Bedrohung obsolet.

Im Folgenden dazu einige Überlegungen, und in diesen Kriegszeiten einige Verweise auf die reiche humanitäre Tradition Europas.

«Typisch appellativ, plakativ, vereinfachend oder geradezu naiv.» So lauteten Stimmen zu Leonard Franks Veröffentlichung «Der Mensch ist gut!» während des Ersten Weltkrieges. Frank traf einen Nerv. Die aufrüttelnden Erzählungen rücken den Krieg in seinem ganzen Irrsinn in das Bewusstsein der Leser. Sein Buch wurde heimlich an der Front gelesen. Später wurde es ein Bestseller.

Vernunft und Mitgefühl ausgeschaltet

Jenseits aller intellektuellen Sophistereien, aller Blasen und Meinungsteppichen aus den modernen PR-Büros der Politik, bleibt auch heute der Mensch ein Mensch. Es liegt nicht in der «Natur» des Einzelnen seinen Mitmenschen umzubringen. Dazu ist im Vorfeld eine breitangelegte mörderische Maschinerie notwendig, die die Vernunft und das mitmenschliche Gefühl ausschaltet.

Wo sind wir gelandet? Wieder «Sterben fürs Vaterland!»? Noch vor wenigen Jahren hätte man darüber konsterniert den Kopf geschüttelt. Doch dank PR, Fake-News-Finder und intensiver Mainstream-Bearbeitung ist es heute fast gelungen, die Bevölkerung wieder auf Krieg und Tod einzustimmen. Es mutet wie ein Albtraum an. Sicher geglaubte Ankerpunkte der Humanität werden von Offiziellen und Intellektuellen kampflos preisgegeben. Aufschreie der Empörung verhallen unter einem Medienschwall bestehend aus Anpassertum, Karrierismus, Dummheit, Autoritätsglauben und Fatalismus.

Der Krieg steht ins Haus

Der Krieg in der Ukraine wird auf den Westen zurückfallen, wenn er nicht demnächst beendet wird. Also auf ganz Europa. Es ist ein Irrtum zu glauben, dieser Krieg beschränke sich von selbst auf das Gebiet der Ukraine, wenn gleichzeitig immer gefährlichere Waffen aus dem Westen geliefert werden. So ist die Ausweitung des Krieges vorprogrammiert. Das erweiterte Schlachtfeld wird Europa heissen. Für Hyperschallwaffen und Langstreckenraketen – auch atomar bestückt – ist jeder Ort in Europa ein erreichbares Ziel. Was ein Dritter Weltkrieg bedeutet, muss man heute niemandem mehr erklären. Oder etwa doch?

Die westlichen Staaten befinden sich in einer übergreifenden medialen Desinformationsblase – die man früher schlicht «Propaganda» nannte. Offenbar fällt dies nur noch jenen auf, die im kritischen Denken konsequent bleiben, die nötige Zeit haben, sich umfassend zu informieren und die innere Kraft und den Mut aufbringen, eigene Gedanken auch gegen den medialen Einheitsbrei zu Ende zu denken. Wozu, nebenbei bemerkt, kein akademischer Titel notwendig ist.

Vernunft und Krieg

Diese die allgemeine Vernunft und das mitmenschliche Gefühl zerstörende Kraft der Propaganda beschreibt der französische Literaturnobelpreisträger Romain Rolland exemplarisch in «Clerambault» während des Ersten Weltkriegs. Nach dem Ende des Krieges stiessen Rollands Werke –, wie die Arbeit unzähliger dem Frieden verpflichteter Personen und Organisationen –, weltweit auf breite Zustimmung. Der Eindruck, den die Grauen des Krieges hinterliessen, die Schlachtfelder von Verdun oder die Giftgastoten von Ypern, wirkte aufrüttelnd. Aber nicht bei allen …

Einundzwanzig Jahre später erschütterte der Zweite Weltkrieg die Menschen. Auch er fiel nicht vom Himmel. Auch er war geplant. Auch er wurde vorbereitet. Und auch diesem Krieg ging eine intensive Propagandaarbeit voraus. Wieder setzten Denken, Vernunft und Mitgefühl aus.

Grausames Erwachen nach dem Zweiten Weltkrieg

Ein grausames Erwachen nach diesem Zweiten Weltkrieg: Abermillionen von toten Soldaten und Zivilisten, Kriegswaisen, Vergewaltigten, Traumatisierten, Krüppeln, Vertriebenen, Entwurzelten, Ruinen ohne Ende, Epidemien, Hungersnöte und der erste Abwurf zweier Atombomben, eine über Hiroshima und eine über Nagasaki mit Tausenden von Toten und genetischen Schäden in die nachfolgenden Generationen.

Die psychosozialen Folgeschäden eines Krieges bis hinein in die dritte Generation werden erst von der Forschung erst seit kurzer Zeit wahrgenommen.

Menschenrechtscharta als Konsequenz

Die Gründung der UNO und die Verkündung der Menschenrechtscharta mit ihrem erklärten Friedensziel waren die zwingende Konsequenz aus dieser Katastrophe. In ganz Europa war das allgemeine Bemühen um Frieden selbstverständlich. Die Zustimmung zu der Arbeit eines Albert Schweitzers oder die breite Unterstützung der Friedensbemühungen einer Person wie Dag Hammerskjöld waren Ausdruck dieser Nachkriegsstimmung.

Für Europa bedeutete die grausame Erinnerung an die zwei Weltkriege fast 50 Jahre Frieden – bis zum Sündenfall des Jugoslawienkriegs. Doch daneben darf nicht in Vergessenheit geraten, dass weltweit nach dem Zweiten Weltkrieg weiter Kriege geführt wurden. In Europa nahm man es kaum wahr. Es gab kein Jahr ohne Krieg! Federführend waren dabei die Regierungen westlicher Staaten. Kriegsschauplätze waren Indien, Indochina, Korea, Lateinamerika, die ehemaligen Kolonien Afrikas, der Nahe Osten, Indonesien, Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien, Jemen usw. – bis heute…

Entscheidung für Krieg oder Frieden

Und doch. Es gibt keine Automatismen – weder anthropologische, sozialpsychologische, soziologische, «systemische», «historisch-materialistische» noch wirtschaftliche –, die zum Krieg führen. Kriege werden geplant. Sie werden vorbereitet. Sie sind gewollt. Und es gibt Personen, die die Macht haben, sie in Gang zu setzen – und dabei oft viel Geld verdienen. Sie entscheiden sich aktiv für Krieg. Sie wollen Krieg. Es sind einige wenige Personen weltweit, die aus ihrer Position heraus, die Macht haben Entscheidungen zu fällen, die Milliarden Existenzen weltweit betreffen. Es ist ihre Entscheidung. Es sei dahingestellt, welche Motive sie dabei bewegen.

Friede ist immer möglich

Frieden ist immer, jederzeit und überall möglich. Von einer Minute auf die andere. Wenn Menschen sich für Krieg entscheiden können, dann können sie sich auch für Frieden entscheiden. Sobald der Wille da ist, ist es möglich. Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen sind keine Zufälle, sie entspringen einer Einsicht und/oder einem eiskalten Kalkül. Es gibt keine Automatismen, die Kriege perpetuieren. Diese Vorstellungen müssen im Bereich der Propaganda verortet werden. Sie lähmen einzig den Friedenswillen und den Mut, den eingeschlagenen Weg in Frage zu stellen.

Verantwortung

Auch wenn einzelne Befehlsgeber – und ich denke an dieser Stelle ausdrücklich nicht an die vielen Politiker, sondern an diejenigen, die tatsächlich die Entscheidungsgewalt haben, Waffenlieferungen zu veranlassen oder zu verhindern, Verhandlungsbemühungen zu fördern oder zu verhindern – wenn diese Personen meinen, sie stehen ausserhalb jeder Verantwortung und dürfen über das Schicksal und das Leben anderer gottgleich entscheiden, so vergehen sie sich an der Menschheit. Sie werden die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen müssen, ob sie es wollen oder nicht, und unabhängig davon, ob es ihnen bewusst ist oder nicht. – Es gibt kein Recht auf Mord oder Totschlag, und es gibt noch weniger ein Recht auf Revanche.

Ausblick

Über Jahrhunderte wurde in Europa immer wieder um Frieden gerungen. Es haben sich in dieser Zeit verschiedene Ansätze entwickelt, um zu gerechtem Frieden bzw. friedlichem Zusammenleben zu gelangen (allgemeiner Landfrieden, Westfälischer Friede, Haager Abkommen, Genfer Konventionen, staatliche Gewaltenteilung, staatliche Mechanismen zur Begrenzung der Möglichkeiten, in Kriege einzutreten usw.). Diese Ansätze gilt es aufzugreifen und weiterzuentwickeln.

Der grossartige Versuch, über die Charta der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg für dauerhaften Frieden zu sorgen, ist bis heute wegweisend. Leider krankt sie an der Konstruktion des Sicherheitsrates –, bestehend aus den damaligen Siegermächten mit Vetorecht–, der ihnen bis heute eine Übermacht gegenüber allen anderen 188 Staaten in der UNO sichert. So ist dieser Ansatz zum Scheitern verurteilt. Doch der Kerngedanke, das gleichberechtigte Nationen gemeinsam für Frieden verantwortlich sind, bleibt bestehen; Nationen im Sinne von souveränen Staaten.

Entscheidungsmacht demokratisieren

Sollte die Menschheit, dem sich anbahnenden weltweiten kriegerischen Konflikt, wie 1962 in der Kubakrise, wieder knapp entrinnen können («… at the end we lucked out …» gemäss US-Verteidigungsminister Robert Mac Namara), dann wird man an die Bemühungen von Henri Dunant, Bertha von Suttner, Aristide Briand, Frank Kelloggs, Albert Schweitzer und vielen anderen anknüpfen, um den Irrsinn eines atomaren Endes auszuschliessen. Dazu können auch die in Europa entwickelten Institutionen einer «kollektiven Sicherheit», wie zuerst die KSZE und später die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), konsequent erneuert werden.

Zum Schluss wird man sich auch Gedanken über die Psychopathologie von «Entscheidern» machen müssen und nach Wegen und Verfahren suchen, um ihre mörderische Entscheidungsmacht weltweit durch angemessene demokratische Regeln und Institutionen zu begrenzen.

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