Der neunte Jahrestag des Ukraine-Krieges

Jeffrey D. Sachs (Photo
Gabriella C. Marino, 2019)

von Prof. Jeffrey D. Sachs,* USA

(7. März 2023) Wir befinden uns nicht am einjährigen Jahrestag des Krieges, wie die westlichen Regierungen und Medien behaupten. Dies ist der 9. Jahrestag des Krieges. Und das macht einen grossen Unterschied.

Der Krieg begann mit dem gewaltsamen Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Februar 2014, einem Putsch, der offen und verdeckt von der Regierung der Vereinigten Staaten unterstützt wurde1 (siehe auch hier2). Seit 2008 haben die USA die Nato-Erweiterung um die Ukraine und Georgien vorangetrieben. Der Putsch gegen Janukowitsch im Jahr 2014 stand im Dienste der Nato-Erweiterung.

Wir müssen diesen unerbittlichen Drang zur Nato-Erweiterung im Kontext sehen. Die USA und Deutschland versprachen dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow ausdrücklich und wiederholt,3 dass sich die Nato nicht «einen Zoll nach Osten» erweitern würde, nachdem Gorbatschow das als Warschauer Pakt bekannte sowjetische Militärbündnis aufgelöst hatte. Die gesamte Prämisse der Nato-Erweiterung war ein Verstoss gegen die mit der Sowjetunion getroffenen Vereinbarungen und damit gegen den Fortbestand des Staates Russland.

Die Neocons haben die Nato-Erweiterung vorangetrieben, weil sie Russland in der Schwarzmeerregion einkesseln wollen, ähnlich wie es Grossbritannien und Frankreich im Krimkrieg (1853–56) getan haben. Der US-Stratege Zbigniew Brzezinski bezeichnete die Ukraine als den «geografischen Dreh- und Angelpunkt» Eurasiens. Wenn es den USA gelänge, Russland in der Schwarzmeerregion zu umzingeln und die Ukraine in das US-Militärbündnis einzubinden, würde Russlands Fähigkeit, seine Macht im östlichen Mittelmeerraum, im Nahen Osten und weltweit auszuweiten, verschwinden, so die Theorie.

Natürlich sah Russland dies nicht nur als allgemeine Bedrohung an, sondern auch als konkrete Bedrohung durch die Aufstellung hochmoderner Waffen bis an die russische Grenze. Dies war besonders bedrohlich, nachdem die USA im Jahr 2002 einseitig den Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) aufgekündigt hatten, was nach Ansicht Russlands eine direkte Bedrohung der nationalen Sicherheit darstellte.

Während seiner Präsidentschaft (2010–2014) bemühte sich Janukowitsch um militärische Neutralität, gerade um einen Bürgerkrieg oder Stellvertreterkrieg in der Ukraine zu vermeiden. Dies war eine sehr kluge und umsichtige Entscheidung für die Ukraine, aber sie stand der neokonservativen Besessenheit der USA hinsichtlich der Nato-Erweiterung im Weg.

Als Ende 2013 Proteste gegen Janukowitsch ausbrachen, nachdem sich die Unterzeichnung eines Beitrittsplans mit der EU verzögert hatte, nutzten die Vereinigten Staaten die Gelegenheit, die Proteste zu einem Staatsstreich ausufern zu lassen, der im Februar 2014 in Janukowitschs Sturz gipfelte.

Die USA mischten sich unnachgiebig und verdeckt in die Proteste ein und trieben sie voran, selbst als rechtsgerichtete ukrainische nationalistische Paramilitärs auf den Plan traten. US-Nichtregierungsorganisationen (NRO) gaben riesige Summen aus, um die Proteste und den schliesslichen Umsturz zu finanzieren. Diese NRO-Finanzierung ist nie an die Öffentlichkeit gelangt.

Drei Personen, die eng in die Bemühungen der USA um den Sturz Janukowitschs involviert waren, waren Victoria Nuland, damals stellvertretende Aussenministerin, heute Unterstaatssekretärin; Jack Sullivan, damals Sicherheitsberater von Vizepräsident Joe Biden und heute nationaler Sicherheitsberater von Präsident Biden; und Vizepräsident Biden, heute Präsident. Nuland wurde bekanntlich dabei erwischt,4 wie sie mit dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt, telefonierte und dabei die nächste Regierung in der Ukraine plante, ohne dass die Europäer auch nur einen Gedanken daran verschwenden durften («Fuck the EU», so Nulands grober Satz, der auf dem Band aufgezeichnet wurde).

Das abgehörte Gespräch offenbart die Tiefe der Planung von Biden, Nuland und Sullivan. Nuland sagt: «Als ich die Notiz schrieb, kam Sullivan zu mir zurück und sagte, Sie brauchen Biden, und ich sagte, wahrscheinlich morgen für etwas Ermutigung und um die Details festzulegen. Also, Biden macht mit.»

Der US-amerikanische Filmregisseur Oliver Stone hilft uns in seinem Dokumentarfilm «Ukraine on Fire» von 2016, die Verwicklung der USA in den Putsch zu verstehen. Ich empfehle allen Menschen, sich den Film anzusehen und zu erfahren, wie eine Operation zum Regimewechsel in den USA aussieht.

Ich fordere auch alle Menschen auf, die aussagekräftigen akademischen Studien von Prof. Ivan Katchanovski von der Universität Ottawa zu lesen (z. B. hier5 und hier6), der mühsam alle Beweise vom Maidan überprüft hat und herausgefunden hat, dass die meisten Gewalttaten und Morde nicht von Janukowitschs Sicherheitskräften ausgingen, wie behauptet, sondern von den Putschisten selbst, die in die Menge schossen und sowohl Polizisten als auch Demonstranten töteten.

Diese Wahrheiten werden durch die US-Geheimhaltung und die europäische Unterwürfigkeit gegenüber der US-Macht verschleiert. Ein von den USA inszenierter Putsch fand mitten in Europa statt, und kein europäischer Führer wagte es, die Wahrheit zu sagen. Es folgten brutale Konsequenzen, aber noch immer sagt kein europäischer Führer ehrlich die Fakten.

Der Putsch war der Beginn des Krieges vor neun Jahren. Eine verfassungswidrige, rechtsgerichtete, antirussische und ultranationalistische Regierung kam in Kiew an die Macht. Nach dem Putsch eroberte Russland in einem schnellen Referendum die Krim zurück, und im Donbass brach ein Krieg aus, als die Russen in der ukrainischen Armee die Seite wechselten und sich gegen die Regierung in Kiew stellten, die den Putsch durchgeführt hatte.

Die Nato begann fast sofort, die Ukraine mit Waffen im Wert von Milliarden von Dollar zu versorgen. Und der Krieg eskalierte. Die Friedensabkommen von Minsk-1 und Minsk-2, bei denen Frankreich und Deutschland als Mitgaranten fungieren sollten, kamen nicht zustande, erstens, weil die nationalistische ukrainische Regierung in Kiew sich weigerte, sie umzusetzen,7 und zweitens, weil Deutschland und Frankreich nicht auf ihre Umsetzung drängten, wie die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich zugab.8

Ende 2021 machte Präsident Putin sehr deutlich, dass die drei roten Linien für Russland folgende sind: (1) die Nato-Erweiterung um die Ukraine sei inakzeptabel; (2) Russland werde die Kontrolle über die Krim behalten; und (3) der Krieg im Donbass müsse durch die Umsetzung von Minsk-2 beigelegt werden. Das Weisse Haus unter Biden weigerte sich, über die Frage der Nato-Erweiterung zu verhandeln.

Die russische Invasion fand tragischerweise und zu Unrecht im Februar 2022 statt, acht Jahre nach dem Putsch gegen Janukowitsch. Seitdem haben die USA Dutzende von Milliarden Dollar an Rüstungsgütern und Budgethilfe bereitgestellt und den Versuch, ihr Militärbündnis auf die Ukraine und Georgien auszudehnen, noch verstärkt. Die Zahl der Toten und die Zerstörung auf diesem eskalierenden Schlachtfeld sind entsetzlich.

Im März 2022 erklärte die Ukraine, dass sie auf der Grundlage der Neutralität verhandeln würde. Der Krieg schien tatsächlich kurz vor dem Ende zu stehen. Sowohl ukrainische und russische Offizielle als auch die türkischen Vermittler gaben positive Erklärungen ab. Heute wissen wir vom ehemaligen israelischen Premierminister Naftali Bennett, dass die Vereinigten Staaten diese Verhandlungen blockierten9 und stattdessen eine Eskalation des Krieges befürworteten, um «Russland zu schwächen».

Im September 2022 wurden die Nord Stream-Pipelines gesprengt. Die erdrückenden Beweise zum jetzigen Zeitpunkt sind, dass die USA bei der Zerstörung der Nord Stream-Pipelines federführend waren. Der Bericht von Seymour Hersh [in englisch, deutsch oder französisch, Red.]10 ist äusserst glaubwürdig und wurde in keinem einzigen wichtigen Punkt widerlegt (obwohl er von der US-Regierung heftig dementiert wurde). Er weist darauf hin, dass das Team Biden-Nuland-Sullivan bei der Zerstörung von Nord Stream die Federführung übernommen hatte.

Wir befinden uns auf einem schrecklichen Pfad der Eskalation und der Lügen oder des Schweigens in einem Grossteil der amerikanischen und europäischen Mainstream-Medien. Das gesamte Narrativ, dass dies der erste Jahrestag des Krieges ist, ist eine Lüge, die die Gründe für diesen Krieg und den Weg zu seiner Beendigung verschleiert.

Dieser Krieg begann aufgrund des rücksichtslosen neokonservativen Drängens der USA auf die Nato-Erweiterung, gefolgt von der neokonservativen Beteiligung der USA an der Regimewechsel-Operation 2014. Seitdem ist es zu einer massiven Eskalation von Rüstung, Tod und Zerstörung gekommen.

Dieser Krieg muss beendet werden, bevor er uns alle in ein nukleares Armageddon verwickelt. Ich lobe die Friedensbewegung für ihre tapferen Bemühungen, insbesondere angesichts der dreisten Lügen und Propaganda der US-Regierung und des feigen Schweigens der europäischen Regierungen, die sich den US-Neokonservativen völlig untergeordnet haben.

Wir müssen die Wahrheit sagen. Beide Seiten haben gelogen, betrogen und Gewalt angewendet. Beide Seiten müssen sich zurückziehen. Die Nato muss den Versuch stoppen, sich auf die Ukraine und auf Georgien auszudehnen. Russland muss sich aus der Ukraine zurückziehen. Wir müssen auf die roten Linien beider Seiten hören, damit die Welt überleben kann.

* Jeffrey D. Sachs, geboren 1954 in Detroit, Michigan (USA), ist ein weltweit anerkannter Wirtschaftswissenschaftler, Bestsellerautor, innovativer Pädagoge und globaler Vordenker für nachhaltige Entwicklung. Er ist weithin anerkannt für seine mutigen und effektiven Strategien zur Bewältigung komplexer Herausforderungen, darunter die Überwindung extremer Armut, der globale Kampf gegen den vom Menschen verursachten Klimawandel, internationale Schulden- und Finanzkrisen, nationale Wirtschaftsreformen und die Bekämpfung von Pandemien und epidemischen Krankheiten. Er ist Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University, wo er den Rang eines Universitätsprofessors innehat.
Jeffrey D. Sachs hat zahlreiche Bücher verfasst und herausgegeben, darunter drei New York Times-Bestseller: The End of Poverty (2005), Common Wealth: Economics for a Crowded Planet (2008) und The Price of Civilization (2011) sowie in jüngerer Zeit A New Foreign Policy: Beyond American Exceptionalism (2018) und The Ages of Globalization: Geography, Technology, and Institutions (2020).

Quelle: https://www.other-news.info/the-ninth-anniversary-of-the-ukraine-war, 28. Februar 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=0ffd27fcf2&e=111aa3756f

2 https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=16856469fa&e=111aa3756f

3 https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=d0eccf4fb4&e=111aa3756f

4 https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=41b6565442&e=111aa3756f

5 https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=0f2feeea25&e=111aa3756f

6 https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=9a1755ea8a&e=111aa3756f

7 https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=1cae0904cc&e=111aa3756f

8 https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=fcc3229d18&e=111aa3756f

9 https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=2160b3f906&e=111aa3756f

10 E: https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=977997d7e2&e=111aa3756f
D: https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-international/wie-die-usa-gemeinsam-mit-norwegen-die-nord-stream-pipelines-zerstoerten.html
F: https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-fr-international/comment-les-etats-unis-en-collaboration-avec-la-norvege-ont-detruit-les-gazoducs-nord-stream.html

Zurück