Überlegungen zu den Ereignissen in Afghanistan

Die Taliban-Regierung festigt sich stetig

M. K. Bhadrakumar
(Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar*

(9. Dezember 2021) Am 14. November hat Thomas West, der neue US-Sonderbeauftragte für Afghanistan, in Moskau mit dem Sonderbeauftragten des Kremls, Samir Kabulow, und dem stellvertretenden Sekretär des Sicherheitsrats, Alexander Venediktow, Gespräche geführt. Seine anschliessende Anerkennung «gemeinsamer Interessen» mit Russland in Bezug auf Afghanistan ist ein wichtiger Schritt nach vorn.

Kabulow teilte später mit, dass Russland und die USA darin übereinstimmen, dass die Übergangsregierung der Taliban im Hinblick auf Regierungsführung und Kontrolle des Landes Einigkeit erreicht habe. Obwohl seit Kabulows Mitteilung eine Woche vergangen ist, wurde diese Aussage von Washington nicht bestritten.

Die Konsultationen von Thomas West in Moskau folgten dem Treffen der «Erweiterten Troika» – Russland, USA, China und Pakistan – in Islamabad vom 11. November (an dem er ebenfalls teilnahm). Somit ist es naheliegend, dass unter den wichtigsten externen Akteuren inzwischen ein Konsens darüber besteht, dass die sechs Wochen alte Taliban-Regierung in der regionalen Politik und auf internationaler Ebene nun eine echte Realität ist.

Damit ist das Format der «Erweiterten Troika» eindeutig die bedeutendste Plattform für das Engagement der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf die Behörden in Kabul.

Wie geht es von diesem Punkt aus weiter? In erster Linie wird die internationale Gemeinschaft die Taliban zweifellos weiterhin dazu drängen, sich schneller auf eine integrative Regierung zuzubewegen und die Scharia grosszügig auszulegen. Es gibt Dinge, die die Taliban tun können, und Dinge, die sie nicht tun können oder wollen. Die in dieser Woche in Kabul veröffentlichte Ankündigung, dass alle Mädchen in ganz Afghanistan von März 2022 an wieder zur Schule gehen werden, und die Zusage, dass es keine Pläne gibt, Frauen von der Arbeit in Schulen auszuschliessen, sind Schritte in die richtige Richtung.

Das Ausmass der Gewalt ist im Vergleich zur Zeit des Regimes von Ashraf Ghani spürbar zurückgegangen. Afghanistan war noch nie ein Land wie die Schweiz oder Bhutan, das mit sich selbst im Reinen ist. Nach vier Jahrzehnten eines erbittert geführten Krieges wird es zwangsläufig einen Rest an Gewalt geben, und es wird für immer Weltuntergangsprognosen von Interessengruppen und Ländern geben, die in der fortgesetzten Anarchie in Afghanistan Vorteile sehen – die Haltung der USA ist jedoch entscheidend.

Ohne amerikanische Unterstützung kann ein weiteres Projekt eines Regimewechsels in Afghanistan nicht gelingen, und selbst die geschwätzigen «Widerstands»-Figuren aus dem Panjshir-Tal (und ihre Mentoren im Ausland) dürften das wissen.

Das Gefühl, dass die USA allmählich und stetig sich auf einen pragmatischen Umgang mit der Taliban-Regierung einstellen, wird als Katalysator für andere westliche Länder wirken, sich auf Kontakte mit den Behörden in Kabul einzulassen. Deutschland und die Niederlande haben sich Grossbritannien in dieser Richtung angeschlossen.

Hochrangige iranische Beamte (links) und Taliban-Behörden unter dem
Vorsitz des stellvertretenden amtierenden Ministerpräsidenten Mullah
Abdul Ghani Baradar (rechts), erörtern institutionelle Grundlagen der
iranischafghanischen Zusammenarbeit.

Dies hat sich zweifellos auf den jüngsten Bericht von Deborah Lyons – der Sonderbeauftragten des Generalsekretärs und Leiterin der Hilfsmission der UNO in Afghanistan – ausgewirkt, der dem Sicherheitsrat am 17. November in New York vorgelegt wurde.

Lyons räumte ein, dass ihre Gespräche mit der De-facto-Taliban-Verwaltung in den letzten drei Monaten in Kabul und den Provinzen «grundsätzlich nützlich und konstruktiv» gewesen seien, da die Behörden eine UN-Präsenz und internationale Anerkennung anstrebten und sich bemühten, das Vertrauensdefizit zwischen ihnen und der internationalen Gemeinschaft zu überwinden.

In Bezug auf die Staatsführung berichtete Lyons, dass die Taliban-Regierung begonnen hat, Zolleinnahmen zu erzielen, die sie zur Lösung dringender Probleme wie der Bezahlung von Beamtengehältern verwendet. Ausserdem sorgen die Taliban weiterhin für die Sicherheit der UN-Präsenz und gewähren einen breiten Zugang für humanitäre Hilfe, auch für weibliche Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.

In einer umfangreichen Erklärung, die Bände spricht, wies sie darauf hin, dass die veränderte Sicherheitslage es der Unterstützungsmission der UNO in Afghanistan (UNAMA) ermöglicht hat, Teile des Landes zu besuchen, die sie seit 15 Jahren nicht mehr betreten hat, um lebenswichtige Hilfe zu leisten.

Lyons sagte, es seien «schwierige Fragen» mit den Taliban besprochen worden, und obwohl «sie diese Bedenken zur Kenntnis genommen haben, haben sie auch deutlich gemacht, dass derzeit ihre Bereitschaft, in gewissen Fragen Zugeständnisse zu machen, begrenzt ist». Dies ist keine Überraschung, und die westliche Welt muss sich auf die Realitäten der afghanischen Kultur, Geschichte und Traditionen einer strenggläubigen muslimischen Gesellschaft einstellen.

Deborah Lyons betonte vor allem, dass die katastrophale humanitäre Lage im Land «vermeidbar» sei, da sie hauptsächlich auf die finanziellen Sanktionen zurückzuführen sei, die die Wirtschaft lähmten. Sie forderte die internationale Gemeinschaft auf, «dringend einen Weg zu finden, um das Gesundheitspersonal in den staatlichen Krankenhäusern, die Mitarbeiter der Ernährungssicherungsprogramme und schliesslich auch die Lehrer finanziell zu unterstützen».

Lyons schloss damit, dass die UNAMA eine wichtige Rolle in einem nachhaltigen und strukturierten politischen Dialog zwischen den De-facto-Behörden, anderen afghanischen Akteuren, der grösseren Region und der internationalen Gemeinschaft spielen wird, mit dem Ziel, einen Weg zum Aufbau konstruktiver Beziehungen zwischen Afghanistan und der ganzen Welt zu finden.1 Insgesamt zeichnete Deborah Lyons ein realistisches, aber vorsichtig optimistisches Bild. Die Skepsis, ob sich die Taliban seit den 1990er Jahren «wirklich verändert» haben, können wir jetzt getrost und endgültig begraben. Die definitive Antwort lautet: «JA, sie haben sich tatsächlich und ohne jeden Zweifel verändert.»

Nun liegt es an Präsident Biden, die Sanktionen aufzuheben. Aber die USA sind ein geteiltes Haus, das unter der im Krieg erlittenen Demütigung leidet und immer noch in einer strafenden Stimmung ist. Leider konzentriert sich der Kongress darauf, Biden mit Blick auf die Zwischenwahlen im nächsten Jahr politisch an den Pranger zu stellen.

Biden hat das Herz auf dem rechten Fleck, und er ist zu menschlicher Güte fähig, aber er ist heute eine zunehmend gelenkte Führungspersönlichkeit und ist politisch zu schwach, um sich durchzusetzen. Was sein Team im Aussenministerium angeht, so ist es viel zu bürokratisch und offensichtlich strategisch ganz in der Ära des Kalten Krieges verhaftet.

Die schlichte Wahrheit ist jedoch, dass letztlich die Initiative aus der Region heraus kommen muss. Es ist durchaus möglich, dass die Taliban zum nächsten Ministertreffen der Nachbarländer – und möglicherweise zum erweiterten Troika-Treffen – Anfang nächsten Jahres in Peking eingeladen werden.

Der Iran hat eine Initiative ergriffen, ohne auf das grüne Licht der erweiterten Troika zu warten. Am Donnerstag gab das Finanzministerium in Kabul bekannt, dass Afghanistan und der Iran mehrere Ausschüsse gebildet haben, um die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern in verschiedenen Bereichen, wie Wirtschaft, Landwirtschaft, Eisenbahn, Handel und Investitionen, auszubauen.

Einer der erörterten Vorschläge ist übrigens die Einrichtung eines trilateralen Ausschusses zwischen Afghanistan, Iran und China zum Bau und zur Finanzierung der Eisenbahnstrecken Herat–Mazar und Wakhan–Kashgar, die sich tiefgreifend auf die regionale Anbindung auswirken würden.

Es gibt Anzeichen dafür, dass eine Delegation der Taliban-Regierung auf eine Einladung nach Moskau zu ähnlichen Gesprächen hofft. Offensichtlich sind sich die Taliban der zentralen Rolle bewusst, die Russland bei der Stabilisierung der Lage in Afghanistan spielen kann.2

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/reflections-on-events-in-afghanistan-35/, 20. November 2021

(Übersetzung « Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.un.org/press/en/2021/sc14706.doc.htm

2 https://tass.com/world/1363107 und https://tass.com/world/1363115 und https://tass.com/world/1363117 und https://tass.com/world/1363187

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