Es ist nicht einfach, in Asien Bedingungen für einen neuen Kalten Krieg zu schaffen

M. K. Bhadrakumar (Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar,* Indien

(20. Juni 2022) Es bleiben nur noch drei Wochen bis zum Gipfeltreffen der «Organisation des Nordatlantikpakts» (Nato) in Madrid, auf dem ein neues Strategisches Konzept vorgestellt werden soll, das «die sicherheitspolitischen Herausforderungen, denen sich das Bündnis gegenübersieht, neu definiert und die politischen und militärischen Aufgaben umreisst, die die Nato zu ihrer Bewältigung wahrnehmen wird.»

Die Nato und die Europäische Union sind sich einig, dass sich die Welt in den letzten zehn Jahren grundlegend verändert hat, der strategische Wettbewerb zunimmt und die Sicherheitsbedrohungen in Europa und Asien inzwischen so eng miteinander verbunden sind, dass die beiden Kontinente zu einem «einzigen Betriebssystem» werden.

Agenda des neuen Kalten Krieges

In der vergangenen Woche wurde die Agenda des neuen Kalten Krieges vervollständigt: US-Präsident Joe Biden empfing die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern, drei winzige Nato-Länder auf dem Balkan sperrten ihren Luftraum für den Besuch des russischen Aussenministers Sergej Lawrow in Serbien, und Japan empfing den Chef des Nato-Militärausschusses Rob Bauer.

Im ersten Fall ging es darum, dass Washington Neuseeland, den zögerlichen Partner im Pazifik, der im Schatten steht, in den Mittelpunkt des indopazifischen Raums rückt.1 (Biden beschwor sogar Erinnerungen an die Landung von US-Truppen im Zweiten Weltkrieg in Neuseeland herauf.)

Im zweiten Fall ging es um einen beispiellosen Akt eines diplomatischen Tabubruchs,2 wie Hunde, die ihr Revier markieren: «Serbien gehört zum Westen.»

Und drittens: Japan und die Nato haben eine neue Ebene der Zusammenarbeit angekündigt.

Im Kampf der USA gegen China und Russland wird Japan zum Ankerpunkt der US-Strategie in Asien. Am Dienstag [7. Juni] wurde in Tokio während Bauers Besuch vereinbart,3 dass Japan und die Nato ihre militärische Zusammenarbeit und ihre gemeinsamen Übungen verstärken werden. (Im Mai hatte der japanische Generalstabschef Koji Yamazaki zum ersten Mal an einem Treffen von Nato-Kollegen in Belgien teilgenommen).

(Grafik worldofmaps.net)

Japan schliesst sich Nato an

Der japanische Verteidigungsminister Nobuo Kishi sagte nach dem Treffen mit Bauer, Japan begrüsse das erweiterte Engagement der Nato im indopazifischen Raum. Er sagte: «Die Sicherheit Europas und Asiens sind eng miteinander verflochten, insbesondere jetzt, wo die internationale Gemeinschaft vor ernsten Herausforderungen steht.» Bauer sprach auch von «gemeinsamen Sicherheitsherausforderungen» für die Nato und Japan. Premierminister Fumio Kishida wurde zum Nato-Gipfel in Madrid eingeladen, womit er der erste japanische Regierungschef wäre, der dies tun würde.

Japan vertritt die Ansicht, dass Russlands Sondereinsatz in der Ukraine die USA ablenkt, was China ermutigen könnte, Taiwan mit militärischer Gewalt mit dem Festland zu vereinigen. In Wirklichkeit scheint die Regierung Biden die Paranoia Japans jedoch nicht zu teilen.

Die Verteidigungsminister der USA und Chinas werden sich am Rande der jährlichen Shangri-La-Konferenz in Singapur treffen.4 Der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hat sich vorsichtig optimistisch gezeigt, dass das bevorstehende Treffen zur regionalen Stabilität beitragen werde. Berichten zufolge änderte das US-Aussenministerium in dieser Woche sein Merkblatt zu Taiwan und setzte die Zeile «Wir unterstützen die Unabhängigkeit Taiwans nicht» wieder ein, die einen Monat zuvor entfernt worden war.

Japans Bestreben, eine wichtige symbolische und praktische Rolle im Kampf des Westens mit Russland zu spielen, beruht auf einer Reihe komplexer Beweggründe. Auffallend ist die Schnelligkeit, mit der Japan zu einem der aktivsten Länder bei der Umsetzung strenger Sanktionen gegen Russland zur Unterstützung der Ukraine wurde. Fast über Nacht schwenkte Premierminister Kishida zu einer offen negativen Haltung gegenüber Russland über.

Kurilen-Frage wieder aufgewärmt

Innerhalb von zwei Wochen nach Beginn der russischen Operation in der Ukraine am 24. Februar erklärte Kishida, dass die «Nördlichen Territorien (Kurilen-Inseln) zu Japan gehören», und am 8. März legte Aussenminister Hayashi nach, dass die Gebiete «unrechtmässig von Russland besetzt» seien. Am 9. März verklagte Kishida Russland bereits vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Und am 16. März widerrief Japan den Status Russlands als «meistbegünstigte Handelsnation», fror russische Vermögenswerte ein und schloss ausgewählte russische Banken vom SWIFT-Banknachrichtensystem aus.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Japan kein militärisches Material mehr in ein anderes Land geschickt, das sich mitten im Krieg befand, doch Anfang März beluden die japanischen Selbstverteidigungskräfte ein Boeing KC-767-Tankflugzeug mit Material für die Kriegsgebiete in der Ukraine.

Alles in allem demonstrierte Japan eifrig seine Bereitschaft, ein proaktiver Partner im amerikanisch-japanischen Bündnis zu werden. Japan verwarf die in den vergangenen vier Jahrzehnten mühsam errungene Gleichberechtigung bei den Verhandlungen zur Lösung der Territorialfrage und den Verhandlungen über einen Friedensvertrag mit Russland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Beziehungen zwischen Japan und Russland haben sich damit zu einem potenziellen Krisenherd in Nordostasien entwickelt.

Japan als Führungsmacht?

Die gegenseitige Besorgnis der USA und Japans angesichts des wirtschaftlichen und militärischen Aufstiegs Chinas und der zunehmenden Raketen- und Nuklearkapazitäten Nordkoreas könnte sowohl für Washington als auch für Tokio ein motivierender Faktor sein, da sie eine Spaltung zwischen Russland und China, wie sie in den 1970er Jahren stattfand, in naher Zukunft nicht mehr als plausible Perspektive ansehen. Grundsätzlich ist jedoch ein Wandel in der japanischen Aussenpolitik festzustellen.

Japans Bündnis mit den USA und die sich abzeichnende Verbindung mit der Nato gehen weit über das blosse Überleben des Landes hinaus, sondern bieten Japan die Möglichkeit, sich zu einer Führungsmacht im indo-pazifischen Raum zu entwickeln. Zweifellos hat die Vereinbarung mit den USA über deren Unterstützung im langjährigen Kurilenstreit Japan ermutigt.

Es ist offensichtlich, dass die Ukraine-Krise gezeigt hat, dass die Interessen der asiatischen Staaten deutlich vielfältiger sind, als viele bereit waren anzuerkennen. Dies würde den Befürwortern des neuen Kalten Krieges in Asien einen Strich durch die Rechnung machen. Während die USA, Australien und Japan an der Spitze der Länder stehen, die sich Russland widersetzen, haben andere Länder auch andere Ansichten.

Vielfältige Interessen asiatischer Staaten

Eine grössere Anzahl blockfreier Länder in Asien, darunter Indien und Indonesien, besteht darauf, dass die Ukraine im Grunde ein regionaler Konflikt ist, ungeachtet der Auswirkungen auf die weltweite Energie- und Nahrungsmittelversorgung.

Die Vision der asiatischen Länder besteht im Wesentlichen in der regionalen Integration und Modernisierung, und nur eine Handvoll Länder hat der Verhängung von Sanktionen gegen Russland zugestimmt, während mehrere – und zwar die grosse Mehrheit – sich entweder offen gegen das Sanktionsregime ausgesprochen haben oder von Sanktionen gegen Russland abgesehen haben.

Russland ist eben eine in Asien ansässige Macht und Mitglied aller wichtigen Gremien, die die multilaterale Architektur der Region ausmachen – APEC [Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft], ASEAN-Regionalforum, ASEAN-Verteidigungsministertreffen, Ostasiengipfel usw., abgesehen davon, dass es seit 1996 ein Dialogpartner der ASEAN ist.

Das Engagement Russlands in den asiatischen Institutionen ist uneinheitlich, aber die meisten Teilnehmer der Region geben ihren Beziehungen zu Moskau den Vorrang. Sofern Russland seine Präsenz nicht freiwillig reduziert, was undenkbar ist, bleibt die multilaterale Architektur Asiens ein Hindernis für die Bemühungen der USA, eine «Koalition der Demokratien» zur Isolierung Russlands zusammenzustellen.

USA haben wenig zu bieten

Die Achillesferse der US-Strategie des neuen Kalten Krieges ist das Fehlen einer inspirierenden wirtschaftlichen Agenda. Die Biden-Administration wagt es nicht, eine Rückkehr zum Freihandel ins Auge zu fassen, da die protektionistischen Gefühle in der Innenpolitik tief verwurzelt sind. Selbst die von der Biden-Administration am Montag für einen Zeitraum von zwei Jahren gewährten Zollbefreiungen5 für gewisse Solarmodule aus vier ASEAN-Ländern – Kambodscha, Malaysia, Thailand und Vietnam – mussten vorsichtig als Teil der Bemühungen dargestellt werden, um die Bewältigung «der dringenden Krise eines sich verändernden Klimas sicherzustellen [...] und den USA Zugang zu einem ausreichenden Angebot an Solarmodulen zu bieten, um den Stromerzeugungsbedarf zu decken, während die heimische Produktion ausgebaut wird». Hierin liegt der Widerspruch: Die Strategie des Kalten Krieges der USA ist in erster Linie militärischer Natur, während die asiatischen Länder vor allem durch wirtschaftliche Schlagkraft beeindruckt werden.

Während viele im Westen dazu neigen, China als fest in Russlands Ecke stehend zu sehen, ist die Realität differenzierter. China hat versucht, sich weder als Kritiker noch als Befürworter Russlands zu positionieren, was unter den gegebenen Umständen wohl eher Russland zugutekommt, und hat keine Anzeichen dafür gezeigt, dass es seine Position angesichts der westlichen Kritik ändern würde. Zweifellos befindet sich China in einer vorteilhaften geopolitischen Lage.

Chinas zukünftige Position

Wird Chinas derzeitige Haltung jedoch die Dauer des Krieges in der Ukraine überdauern, der sich laut einigen Prognosen auf das nächste Jahr ausweiten könnte? Die russische Militäroperation ist nicht so erfolgreich verlaufen, wie Moskau es sich gewünscht oder erwartet hätte. Dennoch wird die Militäroperation nicht enden, ohne dass die russischen Ziele erreicht werden. Und diese Ziele enthalten Variablen. Unter dem Strich wird Peking abwägen, wie die internationale Stellung der USA am Ende aussehen wird, was natürlich grosse Auswirkungen auf Chinas künftige Position in der Welt haben wird.

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/creating-cold-war-conditions-in-asia-isnt-easy/, 9. Juni 2022

Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2022/05/31/remarks-by-president-biden-and-prime-minister-jacinda-ardern-of-new-zealand-before-bilateral-meeting/

2 https://tass.com/politics/1460937?utm_source=google.com&utm_medium=organic&utm_campaign=google.com&utm_referrer=google.com

3 https://apnews.com/article/russia-ukraine-japan-asia-tokyo-e433eec7b8d519aa49050ab4b37b0841

4 https://www.straitstimes.com/world/united-states/china-us-defence-ministers-to-focus-on-managing-competition-at-meeting-in-singapore-us-official

5 https://www.scmp.com/news/china/article/3180654/us-suspends-tariffs-some-solar-panel-imports-two-years-leaves-china-out

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