Heuchelei und «taktische» Atomwaffen

William J. Astore.
(Bild bracingviews.com)

von William J. Astore*

(10. Oktober 2022) Angesichts der Warnungen Russlands, alle ihm zur Verfügung stehenden Waffen einzusetzen, um seine Position in der Ukraine zu schützen, ist es ein guter Zeitpunkt, um über den Unterschied zwischen «taktischen» und «strategischen» Atomwaffen zu sprechen.

Um es ganz klar zu sagen: Es gibt keinen wirklichen Unterschied. Alle Atomwaffen, unabhängig von ihrer Grösse und Sprengkraft, sind verheerend und können zu einem ausgewachsenen Atomkrieg eskalieren. Würde Russland «taktische» Atomwaffen einsetzen, würden die USA und die Nato wahrscheinlich in gleicher Weise reagieren. Selbst wenn ein grösserer Atomkrieg vermieden werden könnte, würden die sich daraus ergebenden politischen Verwerfungen wahrscheinlich die anhaltenden wirtschaftlichen Verwerfungen verschärfen und eine ernste globale Rezession, ja sogar eine Weltwirtschaftskrise auslösen, die das Wachstum von Faschismus und Autoritarismus weiter begünstigen würde.

Wenn man Waffen baut, ist die Versuchung gross, sie auch einzusetzen. Waffen existieren nicht in einem Vakuum. Innerhalb des Militärs werden Menschen für den Einsatz von Waffen ausgebildet. Es werden Doktrinen und Notfallpläne entwickelt. Es werden Übungen durchgeführt, um den Einsatz und die Verwendung in Kriegszeiten vorzubereiten, «nur für den Fall der Fälle». Kurz gesagt, wir können nicht darauf zählen, dass sich hier die Vernunft durchsetzt, nicht, wenn einige Leute zu glauben scheinen, man könne mit einer «kleinen» Atombombe eine Botschaft senden.

Zum Glück für die Welt wurden Atomwaffen seit Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 nicht mehr in einem Krieg eingesetzt. Aber sie werden täglich eingesetzt, um andere Länder einzuschüchtern. Gegenwärtig setzt Russland seine Nuklearstreitkräfte ein, um die Hilfe der USA/Nato für die Ukraine und ihre Beteiligung am russisch-ukrainischen Krieg einzudämmen. Russland zieht eine nukleare rote Linie, und ich bezweifle, dass das ein Bluff ist.

Es ist heuchlerisch, wenn sowohl die USA als auch Russland sich gegenseitig des nuklearen Draufgängertums beschuldigen, denn beide Länder haben Notfallpläne1 für den Einsatz von Atomwaffen. Hoffentlich ist beiden Ländern klar, wie verheerend2 ein nuklearer Schlagabtausch, selbst ein «begrenzter» oder «taktischer», sein würde.

Selbst als Bluff sind nukleare Drohungen leichtsinnig, denn es gibt immer irgendeinen Dummkopf, der den Bluff nicht wahrhaben will. Hoffen wir, dass das US/Nato-Kollektiv nicht den Narren spielt. Wir haben genug Probleme in der Welt, ohne uns gegenseitig mit nuklearen Sprengköpfen jeglicher Grösse oder Sprengkraft zu bewerfen.

* William J. Astore ist pensionierter Oberstleutnant (USAF). Er unterrichtete an der Air Force Academy, der Naval Postgraduate School und lehrte Geschichte am Pennsylvania College of Technology. Sein persönlicher Blog heisst BracingViews.com.

Quelle: https://bracingviews.com, 5. Oktober 2022
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.cnn.com/2022/10/03/politics/ukraine-russia-putin-nuclear-weapons-us/index.html

2 https://www.cnn.com/2022/09/26/europe/russia-ukraine-tactical-nuclear-weapons-explainer-intl-hnk-ml

«Taktisch» oder «strategisch»?

(Angaben aus dem Dokument der Fussnote 2)

«Taktische Sprengköpfe» sind für den Einsatz auf einem begrenzten Schlachtfeld vorgesehen und könnten zum Beispiel zur Zerstörung von Panzerkolonnen oder einer ganzen Flugzeugträgerkampfgruppe auf dem Meer eingesetzt werden. Die Sprengkraft kann zwischen 10 bis 100 Kilotonnen Dynamit betragen.

«Strategische Sprengköpfe» können eine Sprengkraft von 500 bis 800 Kilotonnen haben. Sie könnten riesige Städte und noch viel mehr zerstören.

Der Begriff «geringe Sprengkraft» bei taktischen Waffen ist irreführend – wie die Welt im Jahre 1945 erfuhr, als die USA zwei Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abwarfen.

Diese zwei Explosionen töteten etwa 35 000 bzw. 70 000 Menschen auf der Stelle, und Zehntausende weitere starben später an der freigesetzten Strahlung.

Diese Bomben entsprachen einer Sprengkraft von 15 bez. 21 Kilotonnen Dynamit…

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