Der Westen und der globale Süden

«Ihr dürft im Ukraine-Krieg nicht neutral sein»

Ben Norton. (Bild Twitter)

Entweder seid ihr mit uns oder gegen uns

von Ben Norton,* USA

(7. März 2023) Die Aussenminister der Vereinigten Staaten, Deutschlands und der Ukraine haben der Welt erklärt, im Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland1 «kann man nicht neutral sein», und erinnerten damit an die berüchtigte Erklärung von Präsident George W. Bush: «Entweder seid ihr mit uns oder gegen uns». Damit kritisieren diese westlichen Vertreter implizit die grosse Mehrheit der Länder des globalen Südens, die sich in diesem Krieg strikt neutral verhalten haben.

In einer gemeinsamen Veranstaltung2 auf der Münchner Sicherheitskonferenz3 am 18. Februar erklärte die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock: « Neutralität ist keine Option, denn damit stellt man sich auf die Seite des Aggressors.» Baerbock betonte: «Das ist ein Appell, den wir auch nächste Woche wieder an die Welt richten: Bitte schliessen Sie sich einer Seite an, der Seite, die für den Frieden, für die Ukraine, für das humanitäre Völkerrecht einsteht, und das heisst in der heutigen Zeit auch, Munition zu liefern, damit die Ukraine sich verteidigen kann.»

Die Äusserungen der deutschen Aussenministerin wurden von US-Aussenminister Antony Blinken aufgegriffen. «Wie Annalena [Baerbock] sagte, gibt es keine neutrale Position. […] Es gibt kein Gleichgewicht», sagte Blinken und betonte: «Man kann wirklich nicht neutral sein.»

Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba lobte den Westen dafür, dass er «für Prinzipien und Regeln einsteht», während er den globalen Süden als barbarisch und gesetzlos bezeichnete. «Wir sehen eine noch nie dagewesene Einheit eines Teils der Welt, der für die Prinzipien und Regeln steht, auf denen diese Welt beruht, aber wir sehen auch andere Teile der Welt, von denen einige neutral sind, was faktisch die Unterstützung Russlands bedeutet», sagte Kuleba mit Abscheu.

Baerbock hatte zuvor deutlich gemacht, dass der Westen einen Krieg gegen Russland führt, als sie im Januar dem Europarat erklärte: «Wir führen einen Krieg gegen Russland4

«Länder mit 6 Milliarden Menschen (gelb) sind im Stellvertreterkrieg gegen die
Ukraine neutral geblieben.»(Grafik www.telepolis.de)

Der Ton und der Kontext der Äusserungen hochrangiger westlicher Beamter auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 18. Februar machten deutlich, dass sie wütend auf den Globalen Süden sind, weil dieser sich weigert, sich ihrem Stellvertreterkrieg anzuschliessen.5

Die grosse Mehrheit der Weltbevölkerung im globalen Süden verhält sich im Stellvertreterkrieg gegen die Ukraine neutral

Einen Tag vor dieser Diskussion auf der Münchner Sicherheitskonferenz veröffentlichte das französische Staatsmedium France 24 einen Artikel, in dem es sich darüber beklagte, dass «die meisten Länder des Globalen Südens im vergangenen Jahr eine Position der wohlüberlegten Neutralität gegenüber dem Krieg in der Ukraine eingenommen haben».

In einer zutiefst arroganten Art und Weise schrieb das französische Staatsmedium herablassend, dass «das, was diese vielfältige Gruppe [im globalen Süden] zusammenhält, das Streben nach einer ‹multipolaren› Weltordnung ist, die sich gegen die ‹unipolare Hegemonie› des Westens stellt»; und fügte spöttisch hinzu, dies «ist zufällig auch Russlands liebstes Gesprächsthema.»

Dieses herablassende Argument wird von westlichen Regierungen und Medien immer wieder vorgebracht, wenn sie den globalen Süden dafür kritisieren, dass er sich nicht auf die Seite der Nato stellt.

Die Weltbevölkerung umfasst etwa 8 Milliarden Menschen, von denen mehr als 6 Milliarden in Ländern leben, die im Stellvertreterkrieg gegen die Ukraine neutral geblieben sind.

Dazu gehören die bevölkerungsreichsten Länder der Welt, wie zum Beispiel:

China 1410 Millionen Menschen
Indien 1380 Millionen Menschen
Indonesien 276 Millionen Menschen
Pakistan 236 Millionen Menschen
Nigeria 219 Millionen Menschen
Brasilien 216 Millionen Menschen
Bangladesch 170 Millionen Menschen
Mexiko 129 Millionen Menschen
Äthiopien 105 Millionen Menschen
Ägypten 104 Millionen Menschen
Vietnam 99 Millionen Menschen
Türkei 85 Millionen Menschen
Thailand 67 Millionen Menschen
Tansania 62 Millionen Menschen
Südafrika 61 Millionen Menschen
Kenia 48 Millionen Menschen
Argentinien 46 Millionen Menschen
Algerien 45 Millionen Menschen
Sudan 45 Millionen Menschen
Uganda 43 Millionen Menschen
Irak 42 Millionen Menschen
Marokko 37 Millionen Menschen
Usbekistan 36 Millionen Menschen
Saudi-Arabien 34 Millionen Menschen

Wie Geopolitical Economy bereits berichtete,6 veröffentlichten zwei ehemalige US-Diplomaten im September einen Artikel in Newsweek, in dem sie zugaben, dass «fast 90 Prozent der Welt uns in der Ukraine nicht folgen».7 Sie schrieben: «Diese globale Divergenz wird besonders deutlich, wenn man sich eine Karte der Länder ansieht, die Sanktionen gegen Russland verhängt haben.»

Diese Länder repräsentieren nur etwas mehr als 1 Milliarde Menschen: die Vereinigten Staaten, Kanada, Grossbritannien, die Europäische Union, Australien, Südkorea und Japan (die letzten beiden sind seit Jahrzehnten von den USA militärisch besetzt).

Russland bezeichnet diesen Block gemeinhin als den «kollektiven Westen» und seine vergleichsweise reiche Bevölkerung als die «goldene Milliarde», die von der wirtschaftlichen Ausbeutung im Rahmen des imperialistischen Weltsystems profitiert hat.

Geopolitical Economy zitierte8 zuvor einen im März 2022 von der britischen Zeitung The Guardian veröffentlichten Artikel mit dem Titel «Cold war echoes as African leaders resist criticising Putin's war»,9 in dem beklagt wurde, dass «viele sich an Moskaus Unterstützung bei der Befreiung von der Kolonialherrschaft erinnern, und ein starkes antiimperialistisches Gefühl bleibt».

Die Publikation stellte verärgert fest, dass die meisten afrikanischen Länder «zum Frieden aufriefen, aber die Nato-Osterweiterung für den Krieg verantwortlich machten, sich über die ‹Doppelmoral› des Westens beklagten und sich allen Aufrufen zur Kritik an Russland widersetzten».

Heute sind fast alle afrikanischen Länder Mitglieder der Bewegung der Blockfreien Staaten und verhalten sich ausgesprochen neutral.

Westliche Angriffe auf die Blockfreien-Bewegung

Das westliche Narrativ, dass die Länder des Globalen Südens nicht wirklich neutral seien, geht auf den ersten Kalten Krieg zurück.

Im Jahr 1961 gründeten linke Führer aus Indien, Ghana, Ägypten, Indonesien und Jugoslawien die Bewegung der Blockfreien Staaten. Dieser Block repräsentierte die Mehrheit der Weltbevölkerung und bestand aus Ländern, vor allem aus dem globalen Süden, die sich gegen Kolonialismus und Imperialismus wandten und sich nicht am Kalten Krieg beteiligen wollten. Sie strebten eine wirklich multipolare Welt an, nicht eine bipolare.

Da die Bewegung der Blockfreien von Sozialisten angeführt wurde (Indiens Jawaharlal Nehru, Ghanas Kwame Nkrumah, Ä gyptens Gamal Abdel Nasser, Indonesiens Sukarno und Jugoslawiens Josip Broz Tito), griffen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten im Kalten Krieg die Bewegung an und behaupteten, dass Blockfreiheit in Wirklichkeit bedeute, ein heimlicher Unterstützer des von der Sowjetunion geführten kommunistischen Blocks zu sein.

Die CIA unterstützte 1966 einen Putsch gegen Nkrumah in Ghana. Im Jahr zuvor unterstützte die CIA einen Putsch gegen Sukarno in Indonesien (und unterstützte anschliessend den Völkermord des von den USA unterstützten rechten Diktators Suharto, der zwischen 1 und 3 Millionen Linke ermordete). Die Vereinigten Staaten versuchten auch wiederholt, Nasser zu stürzen, scheiterten aber.

Die westlichen imperialistischen Mächte vertreten seit langem die George W. Bush-ähnliche Position, dass jedes Land, das sie nicht aktiv unterstützt, gegen sie ist.

Die Ukraine selbst war ein Beobachterstaat in der Bewegung der Blockfreien Staaten. Im Jahr 2010 stimmte die Regierung des demokratisch gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch dafür, die Ukraine offiziell zu einem blockfreien Land zu erklären.

Doch im Februar 2014 unterstützten die USA einen Staatsstreich in der Ukraine,10 durch den Janukowitsch gestürzt und ein prowestliches Regime eingesetzt wurde. Kurz nach dem gewaltsamen Putsch gab Kiew offiziell seinen Status als blockfreies Land auf11 und erklärte seine Absicht, dem von den USA geführten Nato-Militärbündnis beitreten zu wollen.

Länder des Globalen Südens verurteilen russische Invasion, geben aber westlicher Aggression die Schuld und bleiben neutral

Die irreführenden Kommentare von Blinken, Baerbock und Kuleba, die behaupten, der Globale Süden sei in Bezug auf die Ukraine nicht wirklich neutral, sind objektiv falsch. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle diese Länder des Globalen Südens den Krieg Russlands unterstützen. Viele Länder des Globalen Südens haben die russische Invasion verurteilt.

Am 2. März 2022, eine Woche nachdem Russland seine Truppen in die Ukraine entsandt hatte, stimmte die Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen für eine Verurteilung der Invasion, darunter auch viele Länder des Globalen Südens.

Eritrea, die Demokratische Volksrepublik Korea, Syrien und Weissrussland stimmten jedoch gegen die Resolution, und 35 Mitgliedstaaten enthielten sich der Stimme, darunter riesige Länder wie China und Indien (mit zusammen fast 3 Milliarden Menschen) sowie Pakistan, Südafrika, Iran, Irak, Sudan, Simbabwe, Vietnam, Algerien, Kuba, Nicaragua, Bolivien, Mosambik und Laos.

Im April 2022 stimmte die Generalversammlung dann erneut ab, diesmal über den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat. Mit 93 Stimmen war die Unterstützung für diese Resolution geringer. 58 Länder enthielten sich der Stimme, darunter Indien, Pakistan, Indonesien, Brasilien, Mexiko, Südafrika, Ägypten, Saudi-Arabien und der Sudan. 24 Länder stimmten gegen die Massnahme, darunter China, Iran, Algerien, Bolivien, Nicaragua, Kuba, Äthiopien, Mali, Laos, Vietnam und Simbabwe.

Der westliche Block will die Welt glauben machen, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: sich ihm anzuschliessen oder sich ihm zu widersetzen. Aber die meisten Länder der Erde, die die grosse Mehrheit der Weltbevölkerung repräsentieren und im globalen Süden liegen, sind tatsächlich neutral. Die Nato ist einfach frustriert, dass 87% der Weltbevölkerung sich ihren Kriegsanstrengungen nicht anschliessen wollen.

* Benjamin Norton ist Journalist und Analyst, der sich in seiner Arbeit hauptsächlich mit Geopolitik und der Aussenpolitik der USA befasst. Er lebt in Lateinamerika und spricht Englisch und Spanisch. Ben Norton ist Gründer und Chefredakteur von Geopolitical Economy Report, einer unabhängigen Nachrichtenwebsite, die sich der Veröffentlichung von Originaljournalismus und -analysen widmet. Ben Norton hat bereits aus zahlreichen Ländern berichtet, darunter Venezuela, Nicaragua, Bolivien, Ecuador, Honduras, Kolumbien und andere. Sie können Ben Norton hier kontaktieren.

Quelle: https://popularresistance.org/west-tells-global-south-you-cant-be-neutral-in-ukraine-war-you-are-either-with-us-or-against-us/, 21. Februar 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://geopoliticaleconomy.com/2022/06/26/cia-special-ops-ukraine-proxy-war-russia/, 26. Juni 2022

2 https://www.state.gov/secretary-antony-j-blinken-with-german-foreign-minister-annalena-baerbock-and-ukrainian-foreign-minister-dmytro-kuleba-at-the-munich-security-conference/, 18. Februar 2023

3 BR24 https://www.youtube.com/watch?v=_ToW3swaj8U

4 https://geopoliticaleconomy.com/2023/01/26/german-foreign-minister-baerbock-war-russia/, 26. Januar 2023

5 https://geopoliticaleconomy.com/2023/01/29/latin-america-ukraine-weapons-brazil-colombia-argentina/, 29. Januar 2023

6 https://geopoliticaleconomy.com/2022/09/21/global-south-west-cold-war-russia/, 21. September 2022

7 https://www.newsweek.com/nearly-90-percent-world-isnt-following-us-ukraine-opinion-1743061, 15. September 2022

8 https://geopoliticaleconomy.com/2022/03/28/global-south-blame-us-nato-ukraine-war-russia/, 28. März 2022

9 https://www.theguardian.com/world/2022/mar/28/cold-war-echoes-african-leaders-resist-criticising-putins-war-ukraine, 28. März 2022

10 https://geopoliticaleconomy.com/2022/04/14/new-york-times-attack-propaganda/, 14. April 2022

11 https://www.france24.com/en/20141223-ukraine-parliament-votes-scrap-non-aligned-status-russia-nato, 23. Dezember 2014

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