Italien

Italienischer General fordert Ende des Ukraine-Konflikts

Fabio Mini. (Bild zvg)

«Permanenter Krieg in Europa ist das bevorzugte Szenario der USA»

Interview mit General Fabio Mini,* geführt von Alessandro Bianchi

(4. April 2023) «Für die USA hat ein permanenter Krieg in Europa mit einem oder mehreren Staaten, die sich freiwillig bereit erklären, ihn auf unbestimmte Zeit zu führen, einen doppelten Vorteil: die Europäer gegen Russland kämpfen zu lassen und sie von ihren Verbindungen mit Peking abzulenken. Doch wie ich in meinem Buch schreibe, gehen die ‹Freiwilligen› für den endlosen Krieg allmählich zur Neige, angefangen bei denen, die an die Front geschickt werden sollen.»

Mit diesen Worten antwortet General Fabio Mini, Autor von «Europa im Krieg» (Paper First, 2023), gegenüber der Publikation «l'Anti Diplomatico» auf die Frage nach der Rolle der USA bei möglichen künftigen Friedensverhandlungen.

Fabio Mini ist eine der beharrlichsten und stärksten Stimmen Italiens, wenn es um die Anprangerung der Risiken geht, die mit der europäischen Haltung gegenüber dem aktuellen Konflikt verbunden sind. Mit seinen Artikeln in «Limes» und «il Fatto Quotidiano» ist es ihm gelungen, die vorherrschende Meinung zu widerlegen. Jene Stimmungsmache, die, wie der General selbst treffend voraussagte, unseren Kontinent einem immer deutlicher werdenden Abgrund näher bringt.

* * *

l'Anti Diplomatico: Herr General, bei der Lektüre Ihres neuesten Buches ist mir der Titel aufgefallen: «Europa im Krieg». Sie haben den Mut, dies klar auszusprechen, obwohl die Medien jeden Tag versuchen, es mit manchmal surrealistischen Fantasien zu verschleiern. Hat sich die Europäische Union (und damit Italien) mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine für einen aktiven kriegerischen Status entschieden?

Fabio Mini: Der Status der europäischen Kriegsbeteiligung liegt nicht nur in der Entsendung von Waffen und auch nicht nur im Zeitfenster des jetzigen aktiven Konflikts. Der Krieg in der Ukraine begann viel früher im Donbass mit der Formel des «Krieges gegen den russischsprachigen Terrorismus».

In diesem Krieg, der mit den Waffen der internen Unterdrückung, des Bürgerkriegs und der Massaker an unschuldigen Menschen geführt wurde, hat sich die EU von Anfang an auf die Seite der ukrainischen Regierung gestellt und zwar schon bevor er begann. Europa dachte, es handele sich «nur» um eine interne Angelegenheit und verhängte dennoch Sanktionen, lieferte Waffen, rüstete die ukrainische Armee neu aus und strukturierte sie um – dieselbe Armee, die 2015 von der Autonomie-Bewegung zerstört worden war.

Man hat aktiv Gleichgültigkeit gegenüber der betroffenen Bevölkerung an den Tag gelegt und ein ukrainisches Regime unterstützt, das sich aus denjenigen zusammensetzte, die man bis kurz vorher noch für gefährliche Neonazis hielt. Alle Kanäle der psychologischen Kriegsführung und der Cyberkriegsführung wurden aktiviert. Die EU hat der europäischen Bevölkerung eine kriegsbezogene Zensur aufgezwungen und die Miliztruppen aus Söldnern und internationalen «Freiwilligen» aufgebaut. Angesichts dieser Kriege ist die Lieferung von Waffen fast unbedeutend, obwohl sie den grössten Teil des westlichen Beitrags ausmacht.

In einer sehr wichtigen Passage Ihres Buches schreiben Sie: «Die modische Vulgata ist immer dieselbe: Der Westen kämpft für das Gute und die Demokratie, gegen das Böse und die Autokratie, für Freiheit, Menschenrechte und Wohlstand, gegen Diktatur, Missbrauch und Armut. Er kämpft, weil er im Recht ist: weil es ein offensichtliches Ziel und ein auserwähltes Volk, einen Hegemon und viele Vasallen gibt.» Aber meinen Sie nicht, dass der Konflikt in der Ukraine dem Westen eine klare Botschaft gegeben hat, dass der Rest der Welt diese selbsterklärte Zweiteilung nicht mehr akzeptiert?

Sehr richtig. Aber dieser Westen scheint es noch nicht verstanden zu haben. Bei der ersten Resolution der UNO-Vollversammlung von 2022 zur Verurteilung des Krieges enthielten sich Länder, die drei Viertel der Weltbevölkerung repräsentieren, der Stimme – und trotzdem wurde diese Abstimmung als Sieg des Guten über das Böse präsentiert. Seitdem haben die USA und die EU den Krieg in der Ukraine weiter angeheizt und versucht, zumindest einige dieser Länder zu überzeugen, ihre Position zu überdenken.

Die zweite UNO-Resolution von 2023 wurde uns ebenfalls als ein umfassender Sieg des «Guten» präsentiert. In Wirklichkeit hat sie zwar die erste Resolution bestätigt, die Anzahl Enthaltungen war jedoch deutlich höher, was das Scheitern des Drucks, der Versprechungen, des Hofierens und der Drohungen, die der sogenannte Westen auf den Rest der Welt ausgeübt hatte, belegt.

Auf die Ursprünge des Konflikts im Jahr 2014 braucht man nicht zurückzukommen. Sie haben diese in ihren Artikeln mehrfach brillant herausgearbeitet. In Ihrem jüngsten Papier skizzieren Sie fünf Grundsätze und 10 Aktionspläne, um «die Hoffnung neu zu entfachen», wobei Sie davon ausgehen, dass nur ein erster Schritt von Russland und den USA die Situation entschärfen kann. Glauben Sie, dass die derzeitige US-Regierung diese Hoffnung wirklich erfüllen wird?

Offen gesagt, nein. Aber es gibt Bedingungen, die selbst den Willen der Herrschenden übersteigen. Ich spreche nicht vom Willen des Volkes, den die so genannten Verfechter der Demokratie in den Mund nehmen und mit Hilfe von gesteuerten Umfragen und «Wahlprognosen» dorthin lenken, wo sie ihn haben wollen.

Ich beziehe mich in erster Linie auf die Auswirkungen des Krieges auf ihre eigenen Interessen. Die USA konnten ihre Verbündeten und die EU-Länder leicht davon überzeugen, dass der Krieg nur von kurzer Dauer sein würde und dass der Wirtschaftskrieg Russland in die Knie zwingen würde. Dies war jedoch nicht der Fall, und Präsident Biden ist nicht mehr überzeugt, dass er die Siegeskarte ausspielen und Russland innerhalb eines Jahres entmachten kann.

Bleibt noch die Karte des Wiederaufbaus durch Big Business, das der sich in offensichtlicher Bedrängnis befindlichen amerikanischen und europäischen Wirtschaft tatsächlich helfen könnte. Aber auch das deckt sich nicht mit dem Wahlhorizont Bidens und dem euro-atlantischen Wirtschaftskollaps. Paradoxerweise könnten der Wiederaufbau und die Aufrüstung Europas dazu führen, dass die Operationen in der Ukraine für die Zeit ausgesetzt werden, die dafür erforderlich ist, um danach zur Zerstörung zurückzukehren.

Es ist ein teuflischer Kreislauf, aber wenn wir darüber nachdenken, findet er überall auf der Welt seit langem immer von Neuem statt. Der aktuelle Krieg in Europa hat ihn vielleicht verkürzt, aber nicht unterbrochen.

Von den Prinzipien, die Sie aufgezählt haben, ist meines Erachtens vor allem eines mittel- bis langfristig der eigentliche Kern des Problems. «Die Lösung des Konflikts muss die Schaffung einer neuen Sicherheitsstruktur in Europa ermöglichen, die sich nicht ausschliesslich auf bewaffnete Bedrohungen stützt sondern auf die Beseitigung aller Ursachen und Vorwände für Territorialkonflikte abzielt.» Ist unser Kontinent ohne ein Sicherheitsprojekt, das die russischen Forderungen in einen Gesamtrahmen einbezieht, zu jahrzehntelanger Destabilisierung verdammt?

Natürlich ist dies das plausibelste und vom Westen bevorzugte Szenario. Für die USA hat ein permanenter Krieg in Europa mit einem oder mehreren Staaten, die sich freiwillig bereit erklären, ihn auf unbestimmte Zeit anzuheizen, den doppelten Vorteil, die Europäer gegen Russland engagiert zu halten und sie von ihren Verbindungen mit Peking abzulenken. Doch wie ich in meinem Buch geschrieben habe, gehen die «Freiwilligen» für den endlosen Krieg allmählich zur Neige, angefangen bei denen, die an die Front geschickt werden sollen.

Auf dem Schlachtfeld steht derzeit die Stadt Bachmut im Mittelpunkt des Geschehens, deren Verteidigung die Ukraine um den Preis enormer Verluste an Menschenleben beschlossen hat. Ist sie strategisch so wichtig? Und was würde ihre Eroberung den Russen bringen?

Fast nichts. Bachmut ist ein Symbol für den gesamten Donbass, ebenso wie Mariupol, das von den Russen zerstört und erobert wurde und nun trotz des Konflikts wieder aufgebaut wird. In wirtschaftlicher Hinsicht ist Bachmut eines von mehreren wichtigen Zentren, nicht so sehr und nicht nur für Russland und die Ukraine, sondern vor allem für die Unabhängigkeit und Autonomie der selbsternannten Republiken.

Aus diesem Grund wurde es stark zerstört. Die Republiken haben sich an die Russen angelehnt, aber sie wollen nicht unbedingt zu einem Ausbeutungsgebiet werden, wie sie es für die Ukraine oder die UdSSR waren. Hinzu kommt der militärische Aspekt: Die leicht bewaffnete Wagner-Gruppe kämpft in Bachmut, während sich die russische Armee auf den Vormarsch vorbereitet und bis dahin auch entferntere Ziele in der gesamten Ukraine unter Beschuss nimmt.

«General Winter» hat sich dieses Jahr bereits zurückgezogen. Der klassische Winterfrost, der ein Vorrücken der Panzer auf hartem Boden ermöglicht hätte, ist ausgeblieben, und der «Rasputin-Schlamm» ist bereits präsent. Die westlichen Panzer mit ihren 70 Tonnen stehen bereits vor grossen Problemen. Eine Absenkung der Raupenketten um etwa 20 Zentimeter reicht aus, damit sie mit dem Bauch den Boden berühren und sich nicht mehr bewegen können. Sie müssen sich auf den Strassen bewegen, was sie noch verwundbarer macht. Weniger schwere russische Panzer hätten eine bessere Chance, aber je länger die ukrainische Armee in Bachmut engagiert ist, desto mehr Zeit bleibt für die Vorbereitung einer Offensive. Auf beiden Seiten.

Generell beobachten wir auch mit Besorgnis, was an einer weiteren roten Linie für Moskau passiert. Besteht wirklich die Gefahr, dass sich in Georgien eine zweite Front auftut?

Das ist es, was die USA und ihre Verbündeten wollen. Es ist eine Falle, aber auch dann könnte Russland hineingelockt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Westen in Georgien und Transnistrien blufft und dass die USA in der Praxis nicht eingreifen würden, wie sie es in der Vergangenheit getan haben, ist sehr verlockend. Und sollte es sich nicht um einen Bluff handeln, bliebe Russland immer noch die Möglichkeit eines direkten Konflikts mit der Nato, der sich entgegen der Meinung seiner Strategen nicht auf eine «konventionelle» Konfrontation beschränken lässt.

Generell ist heute der Begriff «neue Weltordnung» wieder in Mode. Können die Blockfreien in den aktuellen Krisen wieder eine Rolle spielen, die mit den Tagen der Konferenz von Bandung 1955 vergleichbar ist? Welche anderen Blöcke sind als alternative Allianzen und als Friedens- und Verhandlungsmächte in Krisen denkbar?

Ich glaube nicht, dass eine blockfreie Bewegung wie in Bandung, die immerhin indirekt zum Ausgleich der gegnerischen Blöcke beigetragen hat, wiederbelebt werden wird. Nicht nur wegen der politischen Differenzen der verschiedenen «bündnisfreien» Staaten, sondern weil es eigentlich weder einer Struktur noch einer Ideologie bedarf, um sich zu enthalten. Genauso wenig wie es Verträge und Bündnisse und damit verbundene Zwänge braucht, um einen Dissens auszudrücken. Dieser Ansatz wird von den USA, der Nato und der EU immer noch angewandt. Und er ist «alt».

Die neue Weltordnung wird nicht in New York, Washington oder Brüssel entschieden werden. Russland, China, Indien, Brasilien, Argentinien, Südafrika, die arabischen Länder und die Länder des Nahen Ostens sowie Dutzende anderer Länder, die drei Viertel der Weltbevölkerung und fast 90% der wirtschaftlichen Ressourcen ausmachen, sind bereits eine Realität, die nicht in die Vorstellung von Blöcken passt. Es ist auch kein Zeichen von Chaos, denn sie bieten Alternativen, die unabhängig vom Diktat der Blockwarte sind. Die so genannte Neue Ordnung ist lediglich die Verwirklichung dieser Realität.

Bei der laufenden Befriedung des Nahen Ostens, die auf den Rückzug der USA und die diplomatische Rolle Chinas zurückzuführen ist, wurde mit der Vereinbarung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, die diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen, ein wichtiger Schritt getan. Welche Auswirkungen wird dies auf den Konflikt in Europa haben?

Ich habe meine Zweifel, ob es sich hier um Beschwichtigung, einen Rückzug des einen und eine diplomatische Rolle des anderen handelt. Unabhängig von äusserem Druck zeigt die Vereinbarung, dass die beteiligten Parteien die Bedeutungslosigkeit ihrer jeweiligen ideologischen Positionen erkannt und sie angesichts ihrer eigenen Interessen beiseite geschoben haben. Es ist auch ein Beweis dafür, dass lineare und symmetrische politische Vereinbarungen und Ausrichtungen nicht mehr der Realität entsprechen und niemanden mehr «besiegeln». Es ist der Beweis, dass mit dieser Logik die Möglichkeiten der Zusammenarbeit grösser sind als mit dem Dauerkonflikt, mit dem wir seit einem Jahrhundert gefüttert werden.

* Fabio Mini, 1942, Manfredonia, ist ein italienischer Generalleutnant. Er war von 2002 bis 2003 Kommandeur der KFOR. Er übernahm Kommandantenverantwortlichkeit auf allen Ebenen der Mechanisierten Truppe, vom Zug bis zur Brigade. In einer späteren Dienstzuteilung führte er die Operation «Sizilianische Vesper» gegen die organisierte Kriminalität auf Sizilien. Des Weiteren leitete Mini die Vorbereitung, das Training und den Einsatzbeginn der «Legnano-Brigade» in Somalia. Mini war als S3 (Ausbildung)- und ABC-Abwehroffizier für das 4. Panzerregiment in Bellinzago Novarese tätig sowie als G4-Offizier (Logistik) für die Panzerbrigade Ariete in Pordenone. Von 1979 bis 1981 diente er in den USA in der 4. Mechanisierten Infanteriedivision in Fort Carson, Colorado, als G3-Offizier für Planung und Operationen, als stellvertretender G3-Offizier im Bereich Ausbildung und Auswertung und als leitender G3-Offizier des Gefechtssimulations-Zentrums. Nach seiner Rückkehr nach Italien diente er im Heeresgeneralstab als Stabsoffizier in der Personalabteilung, als Leiter des Büros für Öffentlichkeitsarbeit sowie als Presse- und Informations-Offizier des Heeresgeneralstabs. Von 1993 bis 1996 war er als Militärattaché nach Peking entsandt. Als Generalmajor war er Direktor der Führungsakademie des Heeres (1996–1998). Im Januar 2001 wurde er von den Alliierten Streitkräften Südeuropa mit dem Kommando über die Alliierten Streitkräfte für Balkan-Operationen beauftragt.

Quelle: https://www.lantidiplomatico.it/dettnews-generale_fabio_mini_a_lad_la_guerra_permanente_in_europa__lo_scenario_preferito_dagli_stati_uniti/5496_49054, 16. März 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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