Warten auf Bidens Definition des Sieges in der Ukraine

M. K. Bhadrakumar (Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar,* Indien

(21. Februar 2023) Ein Hauch von magischem Realismus lag über dem eintägigen Besuch der politischen Kommissare der EU in Kiew1 am vergangenen Freitag [3. Februar]. Sie bildeten die Exekutive der Gruppe – das sogenannte Kollegium – unter der Leitung der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen. Am Ende des Tages in Kiew, während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Präsident Volodymyr Zelensky, war alles, was die EU-Superbürokraten versprachen, dass «die Zukunft der Ukraine in der EU liegt».

Die BBC berichtete jedoch: «Normalerweise dauert es Jahre, bis ein Land der EU beitreten kann – und die EU lehnte es ab, einen Zeitplan festzulegen, und bezeichnete den Beitrittsprozess als «zielorientiert». Alles hängt nun davon ab, in welchem Zustand die Ukraine aus dem Krieg hervorgehen wird.

In den westlichen Medien ist in letzter Zeit eine düstere Stimmung über die sich am Horizont abzeichnenden Kriegsstürme zu spüren.2 Ein ukrainischer Militäroffizier erklärte gegenüber der BBC, dass die russischen Streitkräfte ein Drittel der strategisch wichtigen Stadt Bakhmut, dem Zentrum der so genannten Zelensky-Linie im Donbass, besetzt hätten. Seitdem gibt es Berichte über weitere russische Erfolge. Die ukrainische Verteidigungslinie hat Risse, durch die ein Elefant auf dem Weg zum Dnjepr in die Steppe gelangen kann.

In einem AP-Bericht,3 in dem ukrainische Beamte aus Kiew zitiert werden, heisst es: «Die russischen Streitkräfte halten die ukrainischen Truppen mit Angriffen in der östlichen Donbass-Region in Schach, während Moskau dort zusätzliche Kampfkraft für eine erwartete Offensive in den kommenden Wochen sammelt.» Auch Reuters berichtet, dass die russischen Streitkräfte «in unerbittlichen Kämpfen im Osten vorrücken. Ein regionaler Gouverneur sagte, dass Moskau Verstärkung für eine neue Offensive, die nächste Woche beginnen könnte, heranschafft».

Hal Brands vom American Enterprises Institute, der für Bloomberg schreibt, reduziert die Prioritäten der Biden-Administration drastisch auf «die Abneigung, Putins Zorn weiter zu schüren». Hal fasst zusammen: «Washingtons Ziel ist eine Ukraine, die militärisch verteidigbar, politisch unabhängig und wirtschaftlich lebensfähig ist; dazu gehört nicht unbedingt die Rückeroberung schwieriger Gebiete wie des östlichen Donbass oder der Krim.»

Von der Zerstörung der russischen «Kriegsmaschinerie» oder einem Aufstand gegen den Kreml und einem Regimewechsel ist keine Rede mehr.

Zwei im letzten Monat in den USA erschienene Berichte von Denkfabriken – «Avoiding a Long War»4 von der Rand Corporation (die dem Pentagon angegliedert ist) und «Empty Bins»5 vom Center for Strategic and International Studies (CSIS) mit Sitz in Washington – sind Ausdruck eines bösen Erwachens.

Der Bericht der Rand Corporation warnt eindringlich davor, dass es angesichts der indirekten Verwicklung der Nato-Länder in den Krieg – «in atemberaubendem Ausmass» – «extrem schwierig» sein wird, einen Krieg zwischen Russland und der Nato unterhalb der nuklearen Schwelle zu halten.

Ein weiterer beunruhigender Gedanke ist, dass ein langwieriger Krieg in der Ukraine, den «viele» im Beltway als Mittel zur Schwächung des russischen Militärs und zur Schwächung der russischen Wirtschaft befürworten, «auch Folgen für die US-Aussenpolitik hätte», da die Fähigkeit der USA, sich auf andere globale Prioritäten – insbesondere den Wettbewerb mit China – zu konzentrieren, eingeschränkt bleiben würde.

Der Rand-Bericht argumentiert, dass «Washington ein langfristiges Interesse daran hat, sicherzustellen, dass Moskau sich nicht vollständig Peking unterordnet». Der Bericht kommt zum Schluss, dass das vorrangige Interesse der USA darin besteht, einen langen Krieg zu vermeiden, da «die Folgen eines langen Krieges – von anhaltend hohen Eskalationsrisiken bis hin zu wirtschaftlichen Schäden – die möglichen Vorteile bei weitem überwiegen».

Der Bericht kommt zu der freimütigen Einschätzung, dass es reine Fantasie ist, sich vorzustellen, dass man [Kiew] «die Fähigkeit Russlands zur Kriegsführung zerstören könnte». Die erstaunlichste Erkenntnis des Berichts ist vielleicht eine doppelte: Erstens teilen die USA nicht einmal das Bestreben der Ukraine, «verlorene» Gebiete zurückzugewinnen, und zweitens liegt es im amerikanischen Interesse, dass Russland unabhängig von China bleibt und ein gewisses Mass an strategischer Autonomie gegenüber der Rivalität zwischen den USA und China behält.

Andererseits ist der CSIS-Bericht, verfasst von dem bekannten strategischen Denker Seth Jones (früher bei Rand Corporation), ein Weckruf, dass die industrielle Basis der US-Verteidigungsindustrie für das «wettbewerbsfähige Sicherheitsumfeld, das jetzt besteht», völlig unzureichend ist. Der Bericht enthält ein Kapitel mit dem Titel «Ukraine and the Great Awakening» [Die Ukraine und das grosse Erwachen], in dem hervorgehoben wird, dass die US-Waffenlieferungen an die Ukraine «die [amerikanische] Verteidigungsindustrie überfordert haben, ausreichende Mengen verschiedener Munitionen und Waffensysteme zu produzieren». Jones repräsentiert die Dualität des militärisch-industriellen Komplexes der USA, der am eigentlichen Ziel des Krieges in der Ukraine nicht interessiert ist.

Er beklagt, dass die US-Verteidigungsindustrie – einschliesslich der Munitionsindustrie – derzeit nicht für einen langwierigen konventionellen Krieg gerüstet ist, obwohl, wie die britische Zeitung Sunday Times letzte Woche schrieb, «alle Kriege Profiteure hervorbringen, und der Ukraine-Konflikt ist da keine Ausnahme. […] Die enormen westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine haben alle Waffenhersteller gestärkt, vor allem durch die Aufstockung der Nato-Arsenale und die Erfüllung der Grossaufträge von Ländern, die jetzt mehr für die Verteidigung ausgeben. […] In den USA gehören Lockheed, Raytheon und Northrop zu den grossen Waffen- und Kampfflugzeugherstellern mit prall gefüllten Auftragsbüchern.»

Die Berichte von Rand Corporation und CSIS sind zu einer Zeit veröffentlicht worden, in der der Krieg einen Wendepunkt erreicht hat. So haben die USA innerhalb des letzten Monats drei der grössten Hilfspakete für die Ukraine angekündigt6 – ein Zeichen der anhaltenden Unterstützung, während sich der Krieg der Ein-Jahres-Marke nähert. Und am Freitag [3. Februar] kündigte die Biden-Administration ein weiteres neues Sicherheitspaket für die Ukraine im Wert von rund 2,2 Milliarden Dollar an, das erstmals auch Raketen mit einer Reichweite von 90 Meilen [150 km] umfasst.

Hierin liegt das Paradoxon. Am 1. Februar sollen vier hochrangige Beamte des Verteidigungsministeriums den Abgeordneten des Ausschusses für Streitkräfte des US-Repräsentantenhauses in einem geheimen Briefing mitgeteilt haben,7 dass das Pentagon nicht glaubt, dass die Ukraine in der Lage ist, die russischen Truppen von der Halbinsel Krim zu vertreiben. Nach dem Briefing erklärte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Repräsentantenhauses, Mike Rogers (R-Ala.), in einem Interview, dass der Krieg «diesen Sommer beendet werden muss».

Senator Rogers sagte: «Es gibt eine Denkschule […], dass die Krim ein Teil davon sein muss. Russland wird die Krim niemals aufgeben. […] Was ist machbar? Und ich glaube, darüber ist man sich noch nicht einig. Daher denke ich, dass unsere Regierung und die Nato-Führung zusammen mit Zelensky Druck ausüben müssen, um herauszufinden, wie ein Sieg aussehen könnte. Und ich denke, das wird uns mehr als alles andere helfen, Putin und Zelensky an einen Tisch zu bringen, um diese Sache noch diesen Sommer zu beenden.»

Dies ist das erste Mal, dass eine hochrangige politische Persönlichkeit der USA einen Zeitplan für diesen Krieg fordert. Kein Wunder, denn auch Senator Bob Menendez, der Vorsitzende des Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen, der die Anhörungen zur Ukraine am 26. Januar leitete, sprach das Kernproblem in einer Frage zuhanden des Protokolls bei der als Zeugin aussagenden US-Unterstaatssekretärin Victoria Nuland an.

Der einflussreiche Senator beklagte, dass Washington «keine Definition des Sieges» habe, und verlangte eine Antwort von Nuland, die daraufhin sprachlos war. Aber es muss sie geärgert haben, denn am Ende der Anhörung gab sie freiwillig eine Antwort: «Wenn wir Sieg als das Fortbestehen und Gedeihen der Ukraine als saubererer demokratischer Staat definieren, dann kann, muss und wird sie.» Punkt.

Nuland hat getrickst. Aber genau das hat auch Präsident Biden in seiner Rede zur Lage der Nation am Dienstag [7. Februar] getan,8 indem er an seinem ermüdenden Mantra festhielt, dass die USA die Ukraine so lange unterstützen werden, «wie nötig». Bezeichnenderweise ist Zelensky zu einer Reise in die wichtigsten europäischen Hauptstädte aufgebrochen, um zu erörtern, was einen Frieden ausmachen könnte.

All dies ist in der Tat weit entfernt von der Rhetorik von Frau von der Leyen,9 als sie letzte Woche nach Kiew aufbrach: «Mit dem Besuch des Kollegiums in Kiew sendet die EU heute eine sehr klare Botschaft an die Ukraine und darüber hinaus über unsere kollektive Stärke und Entschlossenheit angesichts der brutalen Aggression Russlands. Wir werden die Ukraine so lange unterstützen, wie nötig. Und wir werden Russland weiterhin einen hohen Preis auferlegen, bis es seine Aggression einstellt. Die Ukraine kann auf Europa zählen, wenn es darum geht, ein widerstandsfähigeres Land wieder aufzubauen, das auf seinem Weg in die EU vorankommt.»

Es gibt etwas, von dem Frau von der Leyen entweder nichts weiss oder über das sie nicht sprechen will. Inzwischen scheint Biden ihr näher zu stehen als der Rand Corporation, dem CSIS oder Senator Menendez und Frau Nuland – ganz zu schweigen vom republikanischen Senator Rogers. Das muss wohl eine optische Täuschung sein …

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/waiting-for-bidens-definition-of-victory-in-ukraine, 9. Februar 2015

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_23_461

2 https://edition.cnn.com/2023/02/01/europe/russia-maximum-escalation-ukraine-intl/index.html

3 https://apnews.com/article/russia-ukraine-politics-business-b34d8a533e88f1b8c67b841a9b18e5d8

4 https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html

5 https://www.csis.org/analysis/empty-bins-wartime-environment-challenge-us-defense-industrial-base

6 https://apnews.com/article/russia-ukraine-politics-military-and-defense-0f550a262fb6178a7d91b8be6e2c601b

7 https://www.politico.com/news/2023/02/01/ukraine-crimea-russia-pentagon-00080799

8 https://www.voanews.com/a/biden-us-will-support-ukraine-as-long-as-it-takes-/6953138.html

9 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_23_461

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