Zum Schweizer Nationalfeiertag

Schweizerische Vielfalt in der Einheit

Patrick Schneider, der dies-
jährige Festredner in Gunters-
hausen TG. (Bild Ch. Avanzini)

von Patrick Schneider

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kinder,

Es ist mir eine grosse Ehre, heute bei Ihnen eine 1. Augustrede zu halten.
Ganz herzlichen Dank an die «Männerriege Guntershausen», die Organisatorin dieser 1. August-Feier, die mich eingeladen hat, heute ein paar Worte an Sie zu richten.

Zuerst möchte ich an dieser Stelle meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass dieses Jahr wieder eine 1. August-Feier in Guntershausen stattfinden kann. In dieser Turnhalle kann uns auch das schlechte Wetter nichts anhaben.

Wir alle haben auf die eine oder andere Art in den vergangenen 18 Monaten einen teilweise stark veränderten Alltag erlebt. Heute geht es nicht darum, über diese Corona-Zeit zu reden. Trotz der Festlaune bitte ich Sie aber, aus Respekt all jenen gegenüber, die unter dieser Pandemie – auf welche Art auch immer – gelitten haben, kurz innezuhalten.

Als Kind wurde mir in der Schule mal eine Fangfrage gestellt: «Gibt es den 1. August auch in anderen Ländern?» Ohne zu zögern sagte ich: Natürlich gibt es den 1. August nur in der Schweiz. Nur die Schweiz feiert am 1. August Geburtstag. Nur bei uns gibt es Höhenfeuer, Feuerwerk, feine Würste vom Grill, und alles ist mit Schweizer Fahnen geschmückt, und am Abend dürfen wir Lampions und Fackeln tragen. Das gibt es nur in der Schweiz. So habe ich als Kind gedacht.
Natürlich wissen wir alle, dass es den 1. August überall auf der Welt gibt …

Was symbolisiert die 1. August-Feier?

Doch was symbolisiert eigentlich eine 1. August-Feier in der heutigen Zeit? Ich persönlich habe von keinem anderen Fest eine so klare Vorstellung wie von diesem.

An der 1. August-Feier kommen Jung und Alt zusammen. Auch wenn möglicherweise nicht alle aus denselben Gründen an der Feier teilnehmen, verbindet sie die Generationen. An einer 1. August-Feier spielen Beruf, Einkommen, politische Einstellung keine Rolle. An einer 1. August-Feier gehören einfach alle Leute dazu – da gibt es Land auf Land ab keinen Unterschied. Dies widerspiegelt für mich auch die Schweiz.

So unterschiedlich wir sind, urban oder ländlich, fortschrittlich oder traditionell – etwas verbindet uns immer. Wir alle sind in irgendeiner Weise stolz auf dieses Land. Dies gilt nicht bloss für überzeugte Patrioten sondern auch für Leute, die sich durchaus auch kritisch mit unserem Land auseinandersetzen.

Widersprüchlich sind wir oft

Wir Schweizerinnen und Schweizer sind eine starke, aber auch komplizierte Gesellschaft. Widersprüchlich sind wir oft. Das fängt vielleicht bei der Politik an, geht quer durch die Gesellschaft und hört in der Wirtschaft auf. Es gibt aber kein Land auf dieser Welt, in dem auf solch engem Raum so viele verschiedene Möglichkeiten bestehen, sein Leben zu bestreiten und zu gestalten. Wir sind dem Neuen nicht verschlossen, sind aber auch kritisch genug, das Neue nicht immer gleich als Ideal anzusehen. Das ist einzigartig, das ist schweizerisch.
Ich möchte Ihnen dazu gern ein paar Beispiele geben:

Gemeinde
Fangen wir gleich mit Aadorf an. Seit rund 25 Jahren gibt es die Politische Gemeinde Aadorf, in die alle Ortsteile integriert sind, so auch Guntershausen. Trotzdem organisiert jeder Ortsteil seine eigene 1. August-Feier. In der Gemeinde Aadorf gibt es somit fünf 1. August-Feiern. Man könnte ja auch – aus «Effizienz»-Gründen – eine grosse Feier für die ganze Gemeinde machen. Wir machen es jedoch anders – und sind ganz zufrieden damit. Möglicherweise widersprüchlich und trotzdem funktioniert es bestens.

Das einheimische Duo «Sylv und Dölf» ist seit Jahren an
jeder 1. August-Feier im Dorf mit dabei. (Bild Ch. Avanzini)

Bildung
Bildung ist unser wichtigster Rohstoff, das ist allgemein bekannt. Und in der Tat werden in der Schweiz die Menschen sehr gut ausgebildet. Das hält uns jedoch nicht davon ab, die Bildung in jedem Kanton etwas anders zu gestalten: So fangen die einen Kantone früher mit Fremdsprachen an, die anderen später. Dazu gibt es viele weitere Beispiele und das nicht bloss in den anderssprachigen Kantonen, sondern durchaus schon im Nachbarkanton gibt es Unterschiede. Für jemand aus unseren Nachbarländern erscheint das oft sehr widersprüchlich, dass Bildung auf so nahem Raum zum Teil so unterschiedlich vermittelt wird. Möglicherweise geht es uns auch manchmal so. Und trotzdem stehen wir in den Bildungsfragen international sehr gut da.

Politik
Sie können bei Wahlen der einen Partei aus voller Überzeugung ihre Stimme geben, was Sie aber nicht davon abhält, ein paar Monate später ein Referendum zu unterstützen, das Ihre Stammpartei vielleicht bekämpft. Widersprüchlicher geht’s ja wohl kaum. Aber es funktioniert. In der Schweiz funktioniert die Politik unter anderem genau deswegen.

Seit langem haben wir in der Schweiz ein Konkordanzsystem in der Regierung, das heisst, unser Land wird faktisch mit wechselnden Parteimehrheiten regiert. Auch das funktioniert. Als in unserem Nachbarland Deutschland, vor etwa drei Jahren bei der Regierungsbildung die Idee einer Minderheitsregierung im Raum stand, gab es einen grossen Aufschrei, da diese Art der Regierung instabil sei. Man könne nicht mit wechselnden Mehrheiten regieren und ein Land führen. Bei uns funktioniert es, und wir haben seit sehr langer Zeit eine stabile Regierung, auch wenn dies von aussen gesehen vielleicht widersprüchlich erscheint.

Internationale Organisationen
Wir tun uns manchmal schwer, einer internationalen Gemeinschaft beizutreten – in die UNO ist die Schweiz erst 2002 eingetreten. Die Mitglied-schaft in der EU ist bis heute für die Schweiz keine Option. Trotzdem sind wir ein wichtiger internationaler Vermittler, unsere Guten Dienste werden gerne in Anspruch genommen. Oft sind wir auch Gastgeber für heikle politische Begegnungen. Das ist doch spannend: Wir lassen uns ungern eingliedern und sind trotzdem ein wichtiger Vermittler. Eigentlich auch widersprüchlich.

Wirtschaft
In der Schweiz haben wir sehr liberale Arbeitsgesetze verglichen mit den meisten europäischen Ländern. Trotzdem haben wir nach wie vor einen stabilen Arbeitsmarkt, kaum Störungen des Arbeitsfriedens und eine sehr tiefe Arbeitslosigkeit. Ganz sicher einer unserer grössten Trümpfe. Auch ein Widerspruch: keine harten Arbeitsgesetze und trotzdem Arbeitsfrieden.

Finanzen
Wir haben europaweit einen der tiefsten Mehrwert-Steuersätze. Trotzdem haben wir unsere Staatsfinanzen nach wie vor im Griff – oder besser, genau deswegen! Tiefe Steuern und trotzdem anständig geführte Staatsfinanzen. Von aussen gesehen sicher widersprüchlich.

Die Schweiz ist laut der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) das Land mit der tiefsten Schattenwirtschaft aller ihrer Mitglieder. Und das, obwohl wir bei weitem nicht die strengsten Kontrollen haben und unsere Steuerverwaltungen und Finanzämter bei weitem nicht so gross ausgebaut sind, wie in den anderen Ländern. Wenig Kontrollen und trotzdem korrekt arbeitende Unternehmen und Bürger. In anderen Ländern wäre dies sicher ein Widerspruch.

Kultur
In unserem viersprachigen Land ist die Kultur äusserst vielfältig und verschieden. Eine grossartige Vielzahl von Bräuchen und Traditionen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Und das in einem flächenmässig kleinen Land. Trotzdem haben wir eine klare nationale Identität – auch ganz schön widersprüchlich.

Nationalhymne
Ein schönes, humorvolles Beispiel will ich Ihnen nicht vorenthalten: Unsere Nationalhymne. Das fängt schon damit an, dass die einen mitsingen, die andern nicht. Aber es geht noch einen Schritt weiter. Es gibt wohl wenige Länder, in denen so viel darüber diskutiert wird, ob der Text noch der Richtige sei, noch zeitgemäss, oder ob nicht eine komplett neue Hymne entstehen sollte. Auch da lässt sich humorvoll erkennen, wie kritisch wir Schweizerinnen und Schweizer sein können.

Professionalisierung
In der heutigen modernen Zeit wird international alles professionalisiert, spezialisiert und ökonomisiert. Es gibt Berufsarmeen, Berufsfeuerwehr, Berufspolitiker, und vieles weitere mehr. Sehr vieles ist in der Schweiz heute noch im Milizsystem organisiert und geregelt. Ich persönlich bin überzeugt, dass dies eine tragende Säule unserer Schweiz ist, die sehr gut funktioniert. Obwohl viele Menschen von der grossen Bedeutung des Milizsystems überzeugt sind, entspricht es nicht mehr immer und überall dem aktuellen «Zeitgeist». Und schon haben wir wieder einen Widerspruch.

Schlussbemerkung

Abschliessend komme ich wieder auf diese Feier hier in Gunterhausen zurück. Ich sehe in diesem Saal verschiedenste Leute, sicher mit verschiedenen Ideen für die Zukunftsgestaltung und verschiedenen Überzeugungen und auch Widersprüchen in ihrem Tun. Dies hält uns jedoch nicht davon ab, gemeinsam und in bester Stimmung einige Stunden innezuhalten und gemeinsam zu feiern. Egal wer man ist, egal was man hat, egal was man denkt. Und das ist typisch schweizerisch. Der 1. August gehört heute zu unserem Brauchtum, es ist eine Art schweizerisches Ritual geworden. Da spielt es auch keine Rolle, ob die Gründung der Schweiz ab 1291 gefeiert werden sollte, oder erst ab 1848, als der Bundesstaat mit 26 Kantonen gegründet wurde – damals, als der hart erarbeitete Aufstieg des verarmten kleinen Schweizerland zum heutigen Wohlstand und Frieden seinen Anfang nahm.

Und nun noch der letzte kleine Widerspruch: Die 1. August-Feier fand offiziell zum ersten Mal 1891 statt. Somit ist jenes Jahr die eigentliche Geburtsstunde der eidgenössischen Bundesfeier.

Und sollte ich heute, also gerade jetzt, nochmals die Fangfrage gestellt bekommen: «Gibt es den 1. August nur in der Schweiz?» würde ich wieder mit Überzeugung antworten: «Ja, den 1. August, den gibt es nur in der Schweiz!»

Bleiben Sie kritisch, bleiben Sie widersprüchlich, bleiben Sie politisch, bleiben Sie traditionell, bleiben Sie modern, bleiben Sie aber auch gesellig – oder in anderen Worten, bleiben Sie schweizerisch!

Ich danke Ihnen ganz herzlich fürs Zuhören. Ich wünsche uns allen noch einen schönen 1. August!

red. Der «Schweizer Standpunkt» hatte Gelegenheit, am Fest zum Schweizer Nationalfeiertag – dem 1. August – in einem Ortsteil der Ostschweizer politischen Gemeinde Aadorf teilzunehmen. Der vorliegende Text ist die leicht überarbeitete Festrede eines aktiven Bürgers dieser Gemeinde. Patrick Schneider ist parteiloser Gemeinderat (Exekutive), Gewerbetreibender am Ort und zweifacher Familienvater.

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