Die neuen Finanzwaffen des Westens

Manlio Dinucci (Bild zvg)

Verpflichtung der Dritte-Welt-Länder zu kohlenstoffneutralen Investitionen

von Manlio Dinucci,* Italien

(20. Februar 202) Neue Waffen werden dem Arsenal der Wirtschafts- und Finanzpolitik des Westens hinzugefügt. Um deren Natur und Bedeutung zu verstehen, ist es notwendig, von den bisher verwendeten Waffen auszugehen: den Sanktionen – einschliesslich der schwersten, des Embargos – die hauptsächlich von den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union gegen ganze Staaten, Unternehmen und Einzelpersonen verhängt werden.

Es ist von grundlegender Bedeutung, das Kriterium zu verstehen, nach dem sie entschieden werden: Die USA und die EU verordnen durch ein Urteil ohne Berufungsmöglichkeit, dass ein Staat oder ein anderes Subjekt einen Verstoss begangen hat. Sie legen die Sanktion oder das totale Embargo fest und verlangen, dass alle Drittstaaten, unter Androhung von Vergeltungsmassnahmen, diese Massnahmen respektieren müssen.

1960 verhängten die USA ein Embargo gegen Kuba, weil – nachdem es sich selbst befreit hatte – es das «Recht» der USA verletzt habe, die Insel als ihren Besitz zu nutzen: Die neue Regierung verstaatlichte das Eigentum der US-Banken und multinationaler US-Konzerne, die die kubanische Wirtschaft kontrollierten. Heute, 61 Jahre später, ist das Embargo immer noch in Kraft, während US-Unternehmen Rückerstattungen in Milliardenhöhe verlangen.

Im Jahr 2011 – als Vorbereitung auf den Krieg der USA und der Nato gegen Libyen – beschlagnahmten amerikanische und europäische Banken 150 Milliarden Dollar des souveränen Staatsfonds, die der libysche Staat im Ausland investiert hatte. Der grösste Teil davon verschwand. Bei dem grossen Raub stach Goldman Sachs hervor – die mächtigste US-Investmentbank, deren damaliger Vizepräsident Mario Draghi war, der heutige italienische Premierminister.

Im Jahr 2017, nach neuen US-Sanktionen gegen Venezuela, wurden Vermögenswerte im Wert von 7 Milliarden Dollar von den USA «eingefroren» und 31 Tonnen Gold beschlagnahmt, die der venezolanische Staat bei der Bank von England und der Deutschen Bank deponiert hatte.

ESG-Index: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung

Vor diesem Hintergrund wird die neue und kolossale Finanzoperation von Goldman Sachs, der Deutschen Bank und den anderen grossen US-amerikanischen und europäischen Banken lanciert. Offenbar spiegelt sie die Anwendung von Sanktionen wider und sieht keine wirtschaftlichen Beschränkungen oder die Beschlagnahme von Geldern vor, um Länder zu bestrafen, die wegen Verstössen für schuldig befunden würden, sondern das Zugeständnis der Finanzierung von Regierungen und anderen tugendhaften Subjekten, die dem «ESG-Index: Environment, Social and corporate Governance» entsprechen.

Der offizielle Zweck des ESG-Index ist, Normen festzulegen, um die von der Glasgower Konferenz angekündigte drohende Klimakatastrophe zu vermeiden, die von totalitären Regimen mit Füssen getretenen Menschenrechte zu verteidigen und eine gute Regierung nach dem Vorbild der grossen westlichen Demokratien zu gewährleisten.

Das US-Aussenministerium, das Weltwirtschaftsforum (WEF), die Rockefeller-Stiftung, die Weltbank setzen vor allem diese Standards. Einige UN-Organisationen schliessen sich ihnen mit einer untergeordneten Rolle an. Die grösste Garantie für die Menschenrechte stellt das US-Aussenministerium dar, dessen Embargo gegen den Irak mit Zustimmung der Vereinten Nationen von 1990 bis 2003 anderthalb Millionen Tote verursachte, darunter eine halbe Million Kinder.

Die Finanzoperation konzentriert sich auf den Klimawandel: Die UN-Konferenz in Glasgow gab am 3. November bekannt, dass «das Finanzwesen grün und widerstandsfähig wird». Die Glasgow Financial Alliance for Net Zero war somit geboren. Seit April 2021 sind ihr 450 Banken und multinationale Unternehmen aus 45 Ländern beigetreten. Sie verpflichten sich, «in den nächsten drei Jahrzehnten mehr als 130 Billionen Dollar (130 mal Tausend Milliarden Dollar) in privates Kapital zu investieren, um die Wirtschaft bis 2050 auf Null-Emissionen umzuwandeln». Das Kapital wird durch die Ausgabe von Green Bonds (grüne Obligationen) und Investitionen von Anlage- und Pensionsfonds aufgebracht, hauptsächlich mit Geld von Kleinsparern, die Gefahr laufen, sich in einer x-ten Spekulationsblase wiederzufinden.

Ab jetzt gibt es keine Bank und kein multinationales Unternehmen mehr, das sich nicht verpflichtet, bis 2050 Null-Emissionen zu erreichen und in diesem Sinne den «armen Ländern» zu helfen, in denen immer noch mehr als 2 Milliarden Einwohner Holz als einzigen oder Hauptbrennstoff verwenden.1 Feierlich zu Null-Emissionen verpflichtet, ist sogar der anglo-niederländische Ölkonzern Royal Dutch Shell, der sich nach einer Umwelt- und Gesundheitskatastrophe im Nigerdelta weigert, dort die verschmutzten Böden zu säubern. Während sie auf Null-Emissionen warten, sterben die Bewohner weiterhin an Wasser, das durch die Kohlenwasserstoffe von Shell verschmutzt wurde.

* Manlio Dinucci ist Italiener und Geograph, Geopolitologe, Journalist und Bücherautor. Seine letzten Bücher sind: Laboratorio di geografia, Zanichelli 2014; Diario di viaggio (drei Bände), Zanichelli 2017; L’arte della guerra / Annali della strategia Usa/Nato 1990–2016, Zambon 2016; Guerra nucleare. Il giorno prima. Da Hiroshima a oggi: chi e come ci porta alla catastrofe, Zambon 2017; Diario di guerra. Escalation verso la catastrofe (2016–2018), Asterios Editores 2018.

(Übersetzung Horst Frohlich)

Quelle: Il Manifesto (Italien) in: Voltaire Netzwerk https://www.voltairenet.org/article214682.html vom 12. November 2021

1 «COP26: Das Finanzwesen grün machen?», von Thierry Meyssan, Voltaire Netzwerk, 9. November 2021.

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